Sorten erhalten war gestern
oder: Warum die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen von vorgestern die Zukunft ist.
Ich möchte mich heute einmal kritisch mit der so genannten „Erhaltung von (alten) Sorten“ auseinandersetzen. Ich finde, dass sie die Mühe nicht lohnt, die auf sie verwendet wird.
Ich setze die Annahme voraus, dass die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen für die zukünftige (Ernährung der) Menschheit von besonderer Bedeutung ist; deshalb sollte diese so groß wie möglich sein, d. h., es sollten möglichst viele genetisch unterschiedliche Varianten innerhalb jeder Nutzpflanzenart vorhanden sein und diese Varianten sollten außerdem unter tatsächlich gegebenen, „echten“ Klimaverhältnissen gedeihen.
Zwei Fragen sind in diesem Zusammenhang für mich von Bedeutung:
- Wie viel trägt die gegenwärtig betriebene, teilweise sehr aufwändige „Sortenerhaltung“ zur genetischen Vielfalt der Nutzpflanzen bei?
- Gibt es einen effektiveren Weg, die genetische Vielfalt zu erhöhen?
Meiner Meinung nach trägt die „Sortenerhaltung“ zu wenig zur genetischen Vielfalt der Nutzpflanzen bei; die Fixierung auf die Erhaltung von Sorten verhindert im Gegenteil, dass die genetische Vielfalt maximal vermehrt und, was vielleicht noch wichtiger ist, dass sie auf eine breite und dauerhaft gesicherte Basis gestellt wird.
Das werde ich im folgenden begründen.
Meine Ausgangshypothese lautet: Wenn man heute die maximal mögliche genetische Variabilität einer Nutzpflanzenart erreichen möchte, sollte man sich an den Bedingungen der Zeit orientieren, in der die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen am größten war.
Wann gab es die größte Vielfalt der Nutzpflanzen?
Die größte Vielfalt der Nutzpflanzen, sowohl was die genutzten Arten anbelangt als auch die Variationen innerhalb einer Art, gab es eindeutig vor Beginn der industriellen Landwirtschaft und vor Beginn der Pflanzenzüchtung, also um das Jahr 1800 herum.
Zu dieser Zeit existierte eine Unzahl an lokalen Varietäten einer jeden Nutzpflanzenart, die heute so genannten „Landsorten“.
Wie war die große Vielfalt der Nutzpflanzen entstanden?
Die damalige, riesige Zahl an Landsorten hatte sich entwickelt, weil jeder (An)Bauer sein eigenes Saatgut gewann. Dadurch wurden die einzelnen Nutzpflanzenarten über viele Jahrhunderte einerseits an unzählige, unterschiedliche lokale Bedingungen (klimatische Faktoren, Boden- und Anbauverhältnisse) angepasst.
Andererseits wählten die Vermehrer:innen die Samenträger nach eigenen Geschmacks- und Nutzungskriterien aus, wodurch sich die Unterschiede zwischen den lokalen/regionalen Varianten zusätzlich vergrößern konnten.
Durch die natürliche und die menschliche Selektion entstand die damalige immense genetische Vielfalt.
Ich schreibe hier ganz bewusst nicht „Sorten-Vielfalt“; denn das, was heute unter „Sorten“ verstanden wird, gab es damals noch nicht.
Wann entstanden „Sorten“?
Die damaligen Nutzpflanzen wurden nicht in „Sorten“ (Zucht-Sorten mit unterscheidbaren, einheitlichen und stabilen Merkmalen) unterschieden und mit einem einzigartigen Namen gekennzeichnet; sie wurden bei Bedarf allein nach dem Nutzungszweck, ihrem Aussehen, dem Herkunftsort oder sonstigen Auffälligkeiten benannt.
Die Bezeichnung der (eigenen) Pflanzen war für die Bauern und (Haus)Gärtnerinnen von untergeordneter Bedeutung; sie richtete sich bestenfalls beschreibend an den offensichtlichen Unterschieden aus („Bamberger Hörnchen“, „Rote Zwiebel aus Tropea“). Für die damalige Zeit war nicht entscheidend, irgendeine besondere Sorte anzubauen, sondern dass das Erntegut einen gewünschten Zweck erfüllte.
In die Jahre nach 1800 fallen dann die Anfänge der rationellen Landwirtschaft; Landwirtschaft wurde ein Gewerbezweig und von der Selbst- auf die Marktversorgung, auf Ertrags- und Gewinnsteigerung ausgerichtet. Ab dieser Zeit entstand langsam auch eine gezielte, bewusste, gewerbliche Pflanzenzüchtung.
Nun erst bekam der Begriff der „Sorte“ eine Bedeutung: Professionelle Pflanzenzüchter schufen mehr („Selbstbefruchter“) oder weniger („Fremdbefruchter“) einheitliche Gruppen von Pflanzen, die sie zu Vermarktungszwecken mit hübschen, einprägsamen Namen belegten, den Sorten-Namen.
Zucht-Sorten und mit ihnen samenfestes Saatgut gibt es also ungefähr erst seit 1850.
Wodurch verringerte sich die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen?
Mit der Pflanzenzüchtung begann aber auch der Verlust der (genetischen) Vielfalt der Nutzpflanzenarten, indem aus der bis dahin vorhandenen Vielfalt einzelne Gruppen als besser (ertragreicher) ausgewählt und weiter verbreitet wurden. Ab 1900, mit der (Wieder)Entdeckung der Vererbungsregeln, wurde dieser Prozess durch die gezielte Kreuzung verschiedener Gruppen (nun schon „Sorten“ genannt) noch beschleunigt: Die Vielzahl der „Land- und Hofsorten“ nahm stetig ab.
Schlussendlich wurde diese genetische Erosion durch gesetzliche Maßnahmen vollendet: Jede Sorte, die verkauft werden sollte, benötigte eine amtliche Zulassung; nur Saatgut sowie vegetative Teile der „besten“ Zucht-Sorten durften noch gewerblich gehandelt und somit in der (ertragsorientierten) Landwirtschaft verwendet werden.
Die Vielfalt der Nutzpflanzen wurde durch Pflanzenzucht und staatliche Maßnahmen auf wenige (ertragreiche) Hochleistungssorten, die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen auf das heutige Minimum eingeschränkt (die heutigen Zucht-Sorten, die das Bundessortenamt in den entsprechenden Listen veröffentlicht, sind für die Bedingungen der industriellen Landwirtschaft optimiert und unterscheiden sich deshalb genetisch nur geringfügig).
„Sorten“ entstammen also einer Zeit, in der die Vielfalt extrem verringert wurde; sie stehen in meinen Augen symbolisch für diese Zeit. Zucht-Sorten stellten auch früher, zwischen 1850 und 1950, als es noch mehr Pflanzenzüchter und Zucht-Sorten gab als heute, nur (winzige) Ausschnitte aus der vormaligen genetischen Vielfalt der Landsorten dar.
Um es drastisch zu sagen: Zucht-Sorten stehen für den Verlust der genetischen Vielfalt; ihre Anzahl gibt die genetische Vielfalt unserer Nutzpflanzen-Arten an.
Die Erhaltung von „Sorten“
Die Bedeutung des Wortes „Erhalten“
„Erhalten“ (in der Bedeutung, um die es hier geht) wird gemeinhin so verstanden, dass Etwas über möglichst lange Zeit in einem Zustand verbleibt, in dem dieses Etwas sich momentan befindet oder sich einmal befunden hat; „konservieren“ wäre ein anderer Ausdruck für dieses „Erhalten“.
Im Wörterbuch DUDEN wird „Erhalten“ in dieser Bedeutung noch dreifach unterteilt: 2. a): Bestand haben, sich halten, sich erhalten. b): in seinem Bestand, Zustand bewahren; beibehalten, aufrechterhalten. c): in einem bestimmten Zustand bewahren.
Seit nahezu 100 Jahren wird versucht, möglichst viele Nutzpflanzen-Sorten in der vorgenannten Bedeutung zu erhalten (zu konservieren); dazu werden vom „Staat“ und von Pflanzenzüchtern bis heute vor allem Nutzpflanzensammlungen („Genbanken“) angelegt.
Seit ca. 30 Jahren werden diese Einrichtungen bei der „Sortenerhaltung“ von privaten Initiativen unterstützt; im deutschsprachigen Raum sind hier vor allem VEN, VERN, Arche Noah und ProSpecieRara zu nennen. Diese Gruppen wollen nicht mehr gewerbliche genutzte, „alte“ Zucht-Sorten“ bevorzugt dadurch erhalten, indem sie einige Sorten bekannt machen, so dass diese wieder beliebt, verbreitet angebaut und genutzt werden.
Sind „Sorten“ als „Gruppen von Lebewesen“ in einem statischen Zustand zu erhalten?
Das ist die erste Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang aufdrängt: Lässt sich Lebendes überhaupt erhalten, d. h., in einem bestimmten, statischen Zustand bewahren?
Dass sich ein individuelles Lebewesen nicht in einem bestimmten Zustand erhalten lässt, wird niemand bezweifeln; der Alterungsprozess jedes Lebewesens lässt sich nicht aufhalten. Jedes einzelne Lebewesen verändert sich also laufend.
Dass auch Lebewesen als unterscheidbare Gruppen, als Arten/Rassen/Sorten, nicht statisch sind, ist seit Charles Darwin eine weitgehend akzeptierte Tatsache. Innerhalb jeder Gruppe gibt es individuelle (genetisch bedingte) Unterschiede, die zu einem unterschiedlichen Lebens- und Fortpflanzungserfolg der einzelnen Gruppenmitglieder führen.
Einzelne Gruppenmitglieder gedeihen und vermehren sich unter bestimmten äußeren Bedingungen, andere kümmern oder sterben und vermehren sich nicht bzw. kaum.
Durch diese natürliche Selektion werden die genetischen Grundlagen der überlebenden Organismen verändert; zuerst unmerklich, aber über einen längeren Zeitraum (oder durch eine heftige Änderung der äußeren Bedingungen sehr kurzfristig) führt diese Selektion auch zu sichtbaren Veränderungen der äußeren Merkmale und der inneren (physiologischen) Eigenschaften innerhalb dieser Gruppe, zu Anpassungen, zu einer Entwicklung (Evolution).
Auch die subjektive Auswahl der Samenträger bzw. der zur Vermehrung verwendeten, vegetativen Teile durch den Menschen führt zu einer Veränderung des „genetischen Codes“, die durch veränderte Eigenschaften und Merkmale einer Pflanzengruppe (Zucht-Sorte) sichtbar wird.
Ich halte also fest: Jeder Vermehrungszyklus einer Pflanzengruppe führt durch natürliche und zielgerichtete menschliche Selektion zu einer Veränderung ihrer genetischen Grundlagen. Zwangsläufig. Unvermeidlich.
Die Erhaltung einer Pflanzensorte in einem „ursprünglichen“ Zustand ist aus diesen Gründen schlicht unmöglich.
Das bedeutet, dass auch die Nutzpflanzen-Sorten, die in Genbanken „erhalten“ werden, von den Erhaltungsbedingungen (kontinuierlich) verändert wurden/werden. Selbst die Bedingungen im Saatgut-Bunker auf Spitzbergen, in dem Lebewesen annähernd wie Gegenstände behandelt werden, haben Einfluss auf die dort eingelagerten Sorten; denn nicht alle Individuen/Samen vertragen die Tiefkühllagerung gleich gut. Es findet dabei ebenfalls eine Selektion statt.
Ein Lebewesen reagiert auf jeden äußeren Einfluss in eigenständiger Weise.
Keine der „erhaltenen“ Sorten befindet sich demnach noch in dem (genetischen) Zustand, in dem sie einst in die Sammlung aufgenommen wurde (daran ändern auch heutige Standards für die Erhaltung in Genbanken nichts, die diese Veränderungen möglichst gering zu halten suchen).
Die Sorten in den Genbanken veränder(te)n sich also mit der Zeit in unerwünschte Richtungen.
Sie werden/wurden dort weder praxis-bezogenen Anbauverhältnissen noch vielfältigen äußeren Klimabedingungen ausgesetzt (oft werden sie sogar in Gewächshäusern „erhalten“).
Sie können dort nicht einmal nach dem ursprünglich vorhandenen, äußeren Erscheinungsbild („Sortenbild“) selektiert werden, da den Genbanken dazu das notwendige Personal fehlt, das Sortenbild oft nicht (mehr) bekannt oder früher nur unzureichend dokumentiert wurde.
Der ursprüngliche Nutzungszweck spielt bei der „Erhaltung“ in Genbanken überhaupt keine Rolle, da es allein um die Vermehrung (Erhaltung) und nicht um die Nutzung der Sorten geht.
Die Rekultivierung der in den Genbanken „erhaltenen“ Sorten
Wenn dieses, in den Genbanken konservierte „Gen-Material“ wieder in den praktischen Anbau überführt (rekultiviert) werden soll, müssen die erhaltenen Sorten erst aufwändig „wiederhergestellt“ werden, d. h., es muss versucht werden, wenigstens das ursprüngliche Sortenbild (der ehemalige Nutzwert kann aus vorgenannten Gründen überhaupt nicht mehr wiederhergestellt werden) durch eine mehrjährige Auswahl der Samenträger zu rekonstruieren.
In zwei Publikationen beschreibt der „Verein für die Erhaltung und Rekultivierung von Nutzpflanzen“ (VERN), wie die Erhaltung einer Sorte praktisch geschieht (geschehen soll):
- „Sortentypische Eigenschaften sollen erhalten werden und Sortenabweichungen wegselektiert werden. Hierzu benötigt man eine Beschreibung des Sortenbildes. Ist diese nicht verfügbar, ist unbedingt eine eigene Sortenbeschreibung zu erstellen.“ (Die Vielfalt alter Salatsorten – eine Dokumentation, S. 150)
- „Eine Voraussetzung zur Erhaltung einer Sorte ist die Kenntnis des Sortenbildes, damit man die sortentypischen Pflanzen zur Vermehrung auswählen kann. Mit Sortenbeschreibungen werden die typischen Merkmale und somit das Bild einer Sorte erfasst.“ (Leitfaden zur On-farm-Erhaltung alter Gemüsesorten, S. 22)
Die durch die langjährige Genbank-Erhaltung längst veränderten „alten“ Sorten werden also in ihrem äußeren Erscheinungsbild mühsam rekonstruiert und damit letztlich zu neuen „alten“ Sorten; denn eine Rekultivierung trifft auf die gleichen Schwierigkeiten, die bei der Erhaltung in Genbanken eine Rolle spielen: Das ursprüngliche Sortenbild ist nur unzureichend bekannt, die sonstigen Eigenschaften sind zumeist völlig unbekannt.
Grenzen und Probleme der „Sorten-Erhaltung“
Diese rekonstruierten „alten“ Sorten müssen anschließend fortlaufend in der genannten Weise weitergepflegt, sie müssen erhaltungszüchterisch bearbeitet werden. Erhaltungszüchtung erfordert jedoch nicht nur ein sicheres Wissen über die ehemaligen äußeren Merkmale und inneren Eigenschaften einer Sorte, sondern auch züchterisches Fachwissen sowie einen besonderen Aufwand an Personal und Sachmitteln; deshalb kann sie nur an wenigen Orten unter erheblichen Kosten bewerkstelligt werden.
Ein weiteres Manko dieser Form der „Erhaltung“ ist, dass bei der Sortenpflege vor allem die äußeren Merkmale zugrunde gelegt werden. Die wertgebenden Eigenschaften, der Nutzwert kann bei der „Sortenpflege“ aber kaum in gleichem Maße berücksichtigt werden, da dessen Eigenschaften zumeist völlig unbekannt sind und ihre „Erhaltung“ somit in noch stärkerem Maß als das „Sortenbild“ von den subjektiven Kriterien der heutigen „Erhalter:innen“ beeinflusst wird.
Diese Form der Erhaltung ist also eine reine Schein-Erhaltung in der Hoffnung, dass trotz aller Veränderungen alle ursprünglich vorhandenen Gene wenigstens einmal im gesammelten „Material“ erhalten bleiben.
Dazu kommt, dass die Sorten nur an wenigen Orten vermehrt („erhalten“) werden. Das bedeutet einerseits eine geringere Selektion durch aktuelle äußere Faktoren, andererseits eine größere Gefährdung der wenigen Bestände durch menschliche Fehler, ungewollte Einkreuzungen, Krankheiten und Schädlinge.
Ein weiteres Problem ist die Benennung der Sorten; viele Sorten werden aus unterschiedlichen Gründen mit falschen Namen belegt. Selbst auf die Sortennamen, die in Genbanken erhalten werden, ist oft kein Verlass, wie ich selbst schon erleben musste. Was dann letztlich „erhalten“ wird, ist oft willkürlich und allein vom Zufall bestimmt; zu oft ist es nicht die Sorte, die es angeblich sein soll.
Letztlich wird die genetische Vielfalt der Nutzpflanzenarten durch dieses kostspielige Erhaltungsprogramm nur geringfügig erhöht, da nur wenige Sorten auf die genannte Weise gepflegt und damit rekultiviert werden können.
Aufwand (Erhaltung) und Ertrag (genetische Vielfalt) stehen bei dieser „Sorten-Erhaltung“ in keinem akzeptablen Verhältnis.
Die genetische Vielfalt der Zukunft, ihre Herstellung und Erhaltung
Damit komme ich zum Schluss und zu meinem Vorschlag, wie die genetische Vielfalt auf bessere Art und Weise erhalten und gesichert werden könnte.
Ich habe nicht umsonst auf die Zeit verwiesen, in der die größte Vielfalt der Nutzpflanzen bestand; auch habe ich bewusst beschrieben, auf welche Weise sie entstanden ist: Nur eine Nachahmung der damaligen Verhältnisse führt meiner Meinung nach wieder zu einer größtmöglichen und gesicherten genetischen Vielfalt:
Jeder Nutzpflanzen-Gärtner und jede Landwirtin, die es sich wirtschaftlich leisten kann, sollte wieder eigenes Saatgut gewinnen und dabei nicht auf „Sorten-Reinheit“ achten!
Auf diese Weise würden die natürlichen Verhältnisse vieler verschiedener Orte wieder ihren unterschiedlichen Einfluss auf die genetische Entwicklung der angebauten Nutzpflanzen entfalten.
In einem Rekultivierungsversuch des „Champagner-Roggens“ an elf verschiedenen Standorten konnten schon nach wenigen Jahren molekulargenetische Unterschiede zwischen den einzelnen Anbauorten festgestellt werden; bei der Erhaltung der Paprika-Sorte „Roter Augsburger“ an mehreren Standorten waren sogar äußerliche Unterschiede zwischen diesen nachweisbar.
Die so erhaltenen Nutzpflanzen würden also an „echte“ äußere Bedingungen angepasst.
Auch die unterschiedlichen Auswahlkriterien der einzelnen Vermehrer:innen würden zu vielfältigen genetischen Variationen innerhalb der Nutzpflanzenarten beitragen; die Nutzpflanzen-Varianten wären dann „echt“ nützlich (und entsprächen nicht nur einem fiktiven Sortenbild).
Jede Sorten-Mischung sollte ausdrücklich begrüßt werden; sie stellt immer ein hervorragendes Ausgangsprodukt für neue genetische Varianten dar.
Durch diese Einflüsse würde über kurz oder lang die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen wieder außerordentlich gesteigert werden.
Außerdem würde diese Vielfalt erheblich besser gesichert sein; denn wenn viele Anbauer:innen wieder ganz selbstverständlich eigenes Saatgut erzeugen, wäre es kein Drama, wenn einige Saatguterzeuger:innen ausfallen; dadurch wäre nicht sofort die gesamte Vielfalt bedroht.
Im Moment steht die mühsam rekultivierte, zusätzliche genetische Vielfalt auf sehr wackeligen Beinen: Nur sehr wenige, von öffentlicher Förderung und privatem Engagement abhängige Einrichtungen (z. B. die oben genannte Vereine) sowie ein paar private Mini-Betriebe vermehren (erhalten) „alte“ Sorten.
Wie leicht können diese Erhalter:innen ausfallen!
Fazit
Die tausendfache, eigene Saatgutgewinnung ist der zentrale Prozess, der genetische Vielfalt der Nutzpflanzen erzeugt und erhält, nicht die „Sorten-Erhaltung“!
Durch eine verbreitete, allgemein ausgeübte Saatgutgewinnung wird es keine überschaubare Anzahl an „Sorten“ mehr geben, das ist wahr. Es gäbe im Gegenteil eine unüberschaubare Anzahl an Varietäten, es gäbe wieder „Landsorten“.
Ich frage: Geht es darum, ein paar „Oldtimer“-Sorten in Schaugärten, ähnlich Oldtimer-Fahrzeugen in Museen, zu erhalten, oder darum, wieder eine maximal mögliche, lebendige, genetische Vielfalt der Nutzpflanzen zu schaffen?
Aus der maximalen Individuen-Vielfalt der Nutzpflanzen können in einer (klima)veränderten Zukunft vielleicht ein paar nützliche, praxistaugliche Varianten ausgelesen und deren Gene in Zucht-Sorten für den Massenanbau verpflanzt werden.
Dass die Gene der wenigen, von wenigen Leuten sorgfältig gepflegten „alten“ Zucht-Sorten die Menschheit retten werden, ist sehr viel weniger wahrscheinlich.
Deshalb sollte die eigene Saatgutgewinnung wieder verstärkt beworben und gefördert werden ohne Rücksicht auf die Herkunft des Ausgangssaatguts: Jedes Saatgut (auch F1-Hybrid-Saatgut) ist für den Anfang brauchbar, da es durch die Verhältnisse am Anbauort sowie durch die Auswahl der Samenträger fortlaufend verbessert/angepasst und die genetische Vielfält größer wird. Aus diesem Saatgut erwachsen Pflanzen, die individuellen Nutzungszwecken genügen.
Für die Erhaltung von alten Sortenbildern und -namen sollten weder Aufmerksamkeit noch finanzielle Mittel verschwendet werden!
Allein die genetische Vielfalt und der praktische Gebrauchswert unserer Nutzpflanzen sollten das Maß aller Dinge sein!
Wow, was für ein großartiger, hoch informativer / lehrreicher Artikel! Ich bin schwer begeistert, auch von dem ganzen Blog, das ich umfänglich studieren werde! (Der Name war mir irgendwie geläufig, aber dass hier dieses Thema so breit behandelt wird, hatte ich nicht auf dem Schirm).
Hierher fand ich mit der Suchphrase „Erhalt alter Sorten – sinnvoll?“ – zur Frage an sich bin ich gekommen durch eine Kritik an der staatl. geförderten Erhaltungskultur eines engagierten Schweizer Züchters. Mir war ganz neu, dass es daran fundierte Kritik geben kann, gerade wenn es um „genetische Vielfalt“ geht. Er kritisierte z.B. den musealen Erhalt von „alten Sorten“, die gar nicht mehr mit Erfolg angebaut werden können, weil sie sofort den geänderten Bedingungen (Krankheiten, Pilze etc., Klima…) zum Opfer fallen.
Selbst bin ich seit 18 Jahren Hobby-Gärtnerin und bewirtschafte mit meinem Partner 2 Parzellen einer Kleingartenanlage Berlin – möglichst naturnah und insektenfreundlich, aber natürlich auch Gemüse etc.
Gerne haben wir „alte Sorten“ angebaut, insbesondere Tomaten – aus den unterschiedlichsten Quellen, anfänglich auch von VERN. Nicht alle haben uns überzeugt und oft wissen wir auch nicht genau, ob eine Sorte „alt“ ist. Z.B. dachte ich lange „San Marzano“ sei eine moderne, kommerzielle Sorte (sie verhielt sich auch so: alle gleich groß und zum selben Zeitpunkt reif), nun sehe ich sie auf einmal als „alte Sorte“ gelistet!
Manchmal haben wir selbst Samen genommen, sind aber davon abgekommen, weil wir ca. 30 Tomatenpflanzen aus ca. 10 Sorten anpflanzen – die kreuzen sich also hoch wahrscheinlich alle quer und wir wissen dann nicht, was daraus nächstes Jahr wächst. Deshalb haben wir lieber diesselbe „alte Sorte“ immer wieder gekauft, denn wenn ich z.B. eine Black Cherry oder Brandywine Black anbaue, will ich nicht „irgendwas“ stattdessen!
Deinem Link zu den private Minibetrieben bin ich gefolgt und fand dort einige wenige, die in Brandenburg alte Sorten auf einem Boden anbauen, der in etwa auch unserem Gartenboden entspricht. Es erscheint mir hoch sinnvoll, in Zukunft dort Samen zu bestellen und nicht diesselbe „alte Sorte“ von irgendwoher. Denn noch immer suchen wir weitere Tomaten, die im Freiland auf sandigem Boden gut wachsen!
In meinem Gartenblog (siehe Namenslink) werden ich über dieses Thema gewiss schreiben – natürlich mit Link auf dieses tolle Blog!
Liebe Claudia, auch hier danke ich für den Kommentar und das Lob!
Ja, der engagierte Schweizer Züchter (ich weiß, wen Du meinst) kritisiert die Sorten-Erhaltung genauso wie ich, aber aus anderen Gründen. Er will seine neu gezüchteten Sorten verkaufen, ich die frühere Vielfalt der „Landsorten“ wiederhergestellt sehen.
Ich hoffe, Du liest noch ein wenig mehr in meinem Blog; dann wirst Du vielleicht auch auf die Beiträge „Gärtnern mit Landsorten“ und „Landsorten braucht das Land“ stoßen.
In diesen beiden Beiträgen findest Du Informationen, die vielleicht etwas zur Lösung Deines/Eures Problems mit dem Tomaten-Anbau beitragen könnten.
„Mischlingstomaten“ wären möglicherweise genau das, was Ihr braucht; denn diese sind erst einmal wüchsiger (Hetero[zygo]sis-Effekt!) als die „Inzucht-Tomaten“ reiner, samenfester, alter Sorten, aber vor allem genetisch vielfältiger (jede Pflanze hat ab der F2 eine andere genetische Konstitution). Unter dieser „Individuen-Vielfalt“ könnten dann eine oder sogar einige Pflanzen dabei sein, die bei Euch bestens wachsen.
Ihr solltet deshalb auf jeden Fall eigenes Saatgut verwenden (und nicht immer wieder neues kaufen). Normalerweise befruchten sich Tomaten selbst, so dass Ihr in der Regel „sortenechtes“ (samenfestes) Saatgut Eurer alten Sorten bekommt, die dann aber schon ein Jahr bei Euch gut gewachsen sind.
Fremdbefruchtung durch eine andere Sorte kommt bei Tomaten nur sehr selten vor, eher bei den späteren Früchten später im Sommer, wenn die Hummeln in Eurem Garten nichts besseres als Tomatenpollen mehr finden und durch ihre Sammelei von Tomatenpollen doch hin und wieder eine Befruchtung mit dem Pollen einer benachbarten, anderen Sorte vornehmen. Darüber solltet Ihr Euch dann ganz besonders freuen; denn Ihr habt dann „Mischlingstomaten“-Saatgut!
Viele Grüße und in Zukunft mehr Erfolg!
Jürgen
Mit größter Aufmerksamkeit habe ich den Artikel gelesen, den ich vom Grundsatz her voll und ganz teile.
Mich wundert allerdings, dass dabei die rd. 5 Mio Hobby- und Kleingärtner nicht in den Focus genommen werden. Noch immer ist diese Zielgruppe auf Kiepenkerl, Sperli und Co fixiert, anstatt sich der eigenen Saatgutgewinnung zu widmen. Bis in die 60er Jahre war es noch gang und gäbe, dass der Kleingärtner sein Saatgut von Jahr zu Jahr selber gewonnen hat, was auch das Urprinzip des Schrebergärtners ist (siehe L. Migge: Jedermann Selbstversorger!). Dazu müssten allerdings auch die Kleingarten-Verbände und -Vereine viel mehr Aufklärungsarbeit leisten, was dort jedoch bis heute kaum ein Thema ist (Angst vor Anzeigenverlust für das Verbandsorgan?).
Es gibt also noch viel zu tun, um das von Ihnen anvisierte Ziel zu erreichen.
Lieber Dino,
danke für Deinen Kommentar!
Du hast vollkommen recht: Die 5 Millionen Hobby-Gärtner:innen sind auch meine Hoffnung, wie ich in „Hobby-Gärtner:innen rettet die Menschheit!“ ausgedrückt habe. Die „Versunkene Kultur“ des Samenbaus muss aber erst langsam wieder ausgegraben und mit Leben erfüllt werden…
Doch das wird, da bin ich mir sicher, auch wenn die Verbände der Kleingärtner:innen und die staatliche Beratung das noch nicht unterstützen…
Viele Grüße
J:)rgen
Hochinteressanter Artikel. Dein Ansatz ist nachvollziehbar und du bringst eine Fülle guter Argumente. Aber ich denke nicht, dass Sortenbeschreibungen und Sortenerhaltung überflüssig sind.
Sortenerhalt kann man als Zwischenstadium betrachten.
–> Industrielle Sorten-Wüste
—–> Erhalt alter Sorten (mehr genetische Vielfalt)
——–> Gezielte Kreuzungen (noch mehr genetische Vielfalt)
———–> Chaotische Kreuzungen (noch, noch mehr genetische Vielfalt)
Aber von der genetischen Vielfalt als Ziel abgesehen hat speziell der Sortenerhalt ja auch einen ganz anderen, in der Gegenwart verankerten Zweck. Sorten haben Eigenschaften. Wenn ich also eine bestimmte Eigenschaft haben möchte ist eine Sorten sehr nützlich.
Für einen selbst überwiegt vielleicht die Freude an sich anpassende oder gekreuzte Eigenschaften. Am heutigen Markt dagegen brauche ich fixierte Eigenschaften, damit der Kunde weiß, was er bekommt. Hier liegt auch eine Chance. Denn wenn alte Sorten erhalten werden und ihr Fans zunehmen, finden diese vielleicht wieder Einzug in unsere Supermärkte. Das würde die Vielfalt zwar bei weitem nicht so vergrößern, wie ständige neue Kreuzungen. Dafür würde das dann aber auch nicht nur ein Promille des Anbaus betreffen. Und darauf kommt es ja an. Der Fortbestand der Menschheit muss ja nicht in ferner Zukunft gesichert werden sondern jetzt. Jetzt stehen die enormen klimatischen und ökologischen Veränderungen an. Können jetzt alternative Sorten den Markt aufmischen, erhöht das die Ausfallsicherheit.
Alternativ müsste sich der Markt ändern. Wenn es keine fixierten Sorten und keine Zusicherungen an die Eigenschaften gibt, dann müsste die Ware sehr viel regionaler werden und der Verbraucher müsste mehr Möglichkeiten haben die Ware zu testen. Oder anders gesagt: Supermärkte müssten Marktstände werden doch Marktstände bleiben ein Nischenmarkt. Vielleicht ist der Massengeschmack aber auch nur eine Erfindung der Produzenten, die den Verbraucher durch ein Mangel an Angebot dazu erzogen hat, sich mit den immer gleichen Eigenschaften abzufinden. Oder einfach die Konsequenz eines kapitalistischen Marktes, auf dem der Kostendruck höhere Macht besitzt als guter Geschmack.
Hallo ggft,
danke für Deine ausführliche Stellungnahme!
Auf keinen Fall ist mein Ansatz für den Massenmarkt gedacht. Im gewerblichen Bereich ist das heutige System sinnvoll und von Nutzen – dort muss es Sorten mit exakt definierten und zugesicherten Eigenschaften geben; denn ansonsten könnte sich kein Marktteilnehmer auf irgendetwas verlassen.
Mein Aufruf, auf den Erhalt von Sorten zu verzichten und stattdessen die (unkontrollierte) eigene Saatguterzeugung zu befördern, richtet sich allein an Initiativen, die die genetische Vielfalt unserer Nutzpflanzen erhalten wollen, an Selbstversorger*innen und bestenfalls noch an regional vermarktende Bio-Bäuer*innen.
Nur dort ist genügend Vertrauen und die Bereitschaft vorhanden, ein klein wenig Mühe (oder Geld) in eine gesellschaftlich wichtige Leistung zu investieren; nur in diesem Bereich gibt es genügend Möglichkeiten, die Produktqualität direkt mit den eigenen Anforderungen abzugleichen, so dass sie nicht von einem Sortennamen abhängig ist.
Wer eine Zwiebel für sein Essen braucht, wird sehr schnell merken, dass auch eine Zwiebel aus einem bunten Zwiebelsammelsurium alle notwendigen Geschmackseigenschaften besitzt; ansonsten kann sich jeder daran machen, die gewünschten Eigenschaften aus seinem Sammelsurium auszulesen und weiterzuvermehren.
Beste Grüße
J:)