Radieschen von unten betrachtet

oder: Wie ich versucht habe, ein auffälliges Radieschen am Leben zu erhalten.

Dies ist wieder vor allem eine Geschichte über Saatgutgewinnung und Auswahlzüchtung und sie geht so: Ich entdecke unter den roten Radieschen, die aus den Samen eines „Bunten Tütchens“ erwachsen sind, ein auffällig abweichendes Exemplar, ein sehr dunkel-rotes, fast schwarz-violettes, obwohl das Tütchen nur rote Radieschen versprochen hatte (aus welchem der beiden nachfolgend gezeigten Tütchen mein Abweichler stammt, kann ich heute leider nicht mehr sagen).

Aufgrund seiner Abweichung vom Normalen hatte ich es gleich liebgewonnen – ich mag ja das Unnormale, das manche auch „das Besondere“ nennen.

In einem solchen Moment entbrennt in mir sofort die Lust, dieses einzigartige Wesen zu behalten, ja, es sogar zu vermehren, es zu verbreiten und es vielleicht sogar allgemein beliebt zu machen – in mir erwacht der Pflanzenzüchter.

Damit aber nicht ein Teil von Euch, meine lieben Leser*innen, bei dem Wort „Pflanzenzüchter“ gleich in Ehrfurcht erstarrt (und das Lesen einstellt), weil Ihr die Pflanzenzüchter für einen besonders ausgebildeten, hoch spezialisierten Menschenschlag haltet, will ich sofort wieder vorwegschicken, dass die Art Pflanzenzüchtung, die ich betreibe und hier gleich – wieder mal – beschreibe, jede*r betreiben kann: Etwas Gefälliges auswählen und ganz simpel vermehren.

Radieschen von unten von oben betrachtet

Letztmalig: Radieschen von unten betrachtet

Was ich damit sagen will: Ihr könnt das jederzeit auch tun, wenn Ihr etwas Auffälliges, Schönes, Besonderes unter Euren Pflanzen entdeckt. Pflanzenvermehrung – und das allein ist schon Pflanzenzüchtung – ist keine Kunst, auch keine Wissenschaft und erst recht kein Hexenwerk, früher konnte das jede*r Gärtner*in. Pflanzenzüchtung = Pflanzenvermehrung = Saatgutgewinnung.

Erste Radieschenernte 2020

Die erste Vermehrung meines besonderen Radieschens

Mein auffälliges, besonderes, wahrscheinlich ungesetzliches, rot-violettes Radieschen tauchte in den kurzen Reihen von Radieschen auf, die ich Mitte April 2018 in mein Kräuterbeet gesät hatte.

Irgendwo dazwischen sind zwei Reihen Radieschen zu sehen (10. Mai 2018)

Der größere Teil der Radieschen war schon ausgezupft und verspeist, als es mir auffiel.

Es hatte mittlerweile, ebenso wie die drei oder vier anderen Reste-Radieschen, einen Blütenstengel gebildet, der mich vermuten ließ, dass es jetzt holzig und ungenießbar sein würde.

„Dann lass‘ ich es doch einfach mal blühen und Samen bilden und guck‘, was passiert!“ verpackte ich meinen Hang zum Fatalismus in hoffnungsfrohen Glauben an eine blühende Zukunft.

Da ich damals schon ahnte, dass Radieschen zu den Fremdbefruchtern gehören – und ein einzelnes Radieschen sich deshalb mit der Samenbildung schwer getan hätte, ließ ich auch die anderen (roten) Radieschen Blüten bilden.

Blühende Radieschen am 21. Juni 2018

Ich hatte noch nie Radieschen blühen sehen; deshalb war ich ziemlich erstaunt, als ich sah, wie groß und sparrig diese kleinen Pflänzchen werden konnten. Sie gingen mir fast bis zur Brust, wurden also mindestens 1,50 Meter hoch. Auch ihr Breitenwachstum war beachtlich. Ich musste sie stützen, damit sie nicht über ihre Nebengewächse herfielen.

Ich erfreute mich, genauso wie zahlreiche Insekten, an ihren weißen und hell-violetten Blüten, die sich in fortwährenden Verzweigungen immer neu bildeten.

Die Blüten verwandelten sich dann bald in Schoten, die blasig aufquollen und mich eine reiche Samenernte erwarten ließen – bis ich am 6. Juli etwas entdeckte, das mir nicht geheuer war: Eine Invasion winziger Rüsselkäfer, die ich im Zuge dieses Beitrags als Kohlschotenrüssler (Ceutorhynchus assimilis) entlarvt zu haben glaube.

Verblüte Reste-Radieschen am 6. Juli 2018, umrahmt von Ringelblumen, Mohn und Dill

Versammlung von Kohlschotenrüsslern auf einer Radieschenschote am 6. Juli 2018

Der Kohlschotenrüssler oder Echter Kohlschotenrüssler (Ceutorhynchus assimilis)

Die Käfer sind 2,5–3 mm lang und wirken durch eine feine Behaarung grau. Die Schienen und Tarsen sind schwarz gefärbt. … Zur Eiablage beißt der Kohlschotenrüssler junge Schoten an und belegt sie mit je einem Ei. Die belegten Schoten werden mit einem Sekret markiert, um eine erneute Belegung durch ein anderes Weibchen zu verhindern. Die Larve frisst zwei bis drei Samenanlagen aus. Nach einer 35–40 Tage dauernden Entwicklung verlässt die Larve die Schote, ohne dass diese platzt, zur Verpuppung im Boden. Es wird nur eine Generation pro Jahr gebildet. … Eine chemische Bekämpfung des Kohlschotenrüsslers mit Insektiziden aus der Gruppe der Pyrethroide ist üblich“, weiß die Wikipedia.
„Die Einstichstellen in die Schotenwand für die Eiablage vernarben und sind nur schwer zu erkennen. Rapsschoten, in deren Inneren Larven des Kohlschotenrüsslers an den Samen fressen, zeigen auf der Aussenwand helle Flecken (Abb. 2). Meist wird der Befall aber erst eindeutig erkennbar, wenn die Larve die Schote durch ein Stecknadelkopf grosses Loch verlassen hat (Abb. 1). … Durch das Ausbohrloch der Larve kann Wasser eindringen und zu Auswuchs oder Pilzinfektionen führen. … Der Kohlschotenrüssler legt seine Eier in die Schoten von vielen Arten der Familie der Kreuzblütler (Brassicaceae, Cruciferae). Ein Schaden entsteht aber nur dort, wo die Samen geerntet werden. Wichtige Wirtspflanzen sind deshalb: Raps sowie Samenträger von Kohlarten.“, klärt die schweizerische Webseite Pflanzenkrankheiten.ch auf.
„Auch wenn die Fraßschäden, die zunächst die Käfer und später die Larven verursachen, als gering einzustufen sind, sollte der Kohlschotenrüssler unter Kontrolle gehalten werden. Denn ein weiterer Rapsschädling – die weitaus gefährlichere Kohlschotenmücke – ist für die Eiablage auf Schotenverletzungen, wie sie durch den Fraß des Kohlschotenrüsslers entstehen, angewiesen“, warnt der Industrieverband Agrar.

All das wusste ich damals aber noch nicht.

Die kleinen Tierchen wimmelten also auf den Schoten herum und steckten ihre langen, dünnen Näschen in alles, was grün war. Das gefiel mir ganz und gar nicht.

Nach einer Weile verschwanden sie aber genauso plötzlich, wie sie gekommen waren. Mit ihnen verschwand auch meine Besorgnis um die Samen meines speziellen Radieschens.

Mir schienen die Schoten dann auch schon ausgereift genug, so dass ich die gesamten Pflanzen mit all ihren Verästelungen bald aus Oregano, Salbei, Dill und Bohnenkraut befreite, um sie an einem überdachten Ort endzutrocknen. Schlussendlich wurden die trockenen Schoten der beiden „Sorten“ von mir in zwei getrennte Papiertüten gepflückt.

Ein anschließender Probedrusch verlief erfolgreich: Es war nicht schwer, die Schoten zwischen den Fingern zu zerbröseln und die luftigen Schotenteile sanft wegzublasen; die schweren Samen blieben leicht in meiner gerundeten Handfläche zurück.

Zerriebenene Radieschenschoten am 27. Juli 2018

Das Saatgut, selbst gewonnen (Juli 2018)

Die erste Aussaat meines besonderen Radieschens

Im folgenden Frühjahr – es war der des Jahres 2019 – benutzte ich meine ersten, eigenen Radieschensamen als Markierungssaat in den Möhren- und Zwiebelreihen. Dazu verwendete ich hauptsächlich die Samen meines rot-violetten Radieschens; denn daraus sollten am ehesten wieder rot-violette Wurzelknöllchen wachsen, war ich der Meinung.

Markierungsradieschen im Zwiebelbeet am 2. Mai 2019

Doch Pustekuchen! Unter den ca. 30 Pflänzchen war nur ein einziges rot-violettes; alle anderen leuchteten in gewöhnlichem Rot.

Aber wie das so ist im Gärtnerleben: Es geschehen immer wieder Zeichen und Wunder! Aus den Samen der „gewöhnlichen“ Radieschen, die neben meinem rot-violetten geblüht hatten, erwuchsen einige weitere rot-violette Wurzelfrüchtchen.

Insgesamt entdeckte ich acht meiner Auswahlpflanzen, die aber nun leider weit verstreut zwischen meinen Möhren und Zwiebeln in zwei, ziemlich weit voneinander entfernten Gärten standen.

Tja.

Ich wusste ja, was mir blühte: Riesige Kraken, die ihre 100 Arme auf meine Möhren und Zwiebeln legen und sie erdrücken würden; und die Insekten würden sie aufgrund ihrer Zerstreuung in verschiedene Gärten nicht einmal sicher gegenseitig befruchten.

Nun war guter Rat teuer.

Kann ich ausgewachsene Radieschen um diese Jahreszeit – es war mittlerweile Ende Mai und warm und trocken – noch umpflanzen?

Was blieb mir anderes übrig, als einen Versuch zu wagen.

Ich verpflanzte also alle rot-violetten Exemplare zusammen an einen Platz. Dazu grub ich jedes einzelne mit einer Handvoll Erde aus; diese sollte möglichst nicht abfallen, was aber aufgrund der herrschenden Trockenheit nahezu unmöglich war. Auf die Idee, das umzupflanzende Radieschen vor dem Ausgraben zu wässern, kam ich nicht. Dafür schlämmte ich es in seinem neuen Lebensraum reichlich ein.

Trotz dieser Fürsorglichkeit ließen die frisch Verpflanzten den Lebensmut sinken; gegen Abend sah ich ihr junges Leben dahinwelken.

Aber am folgenden Morgen hatten sie neue Hoffnung geschöpft und sich entschlossen, ihr Leben entschlossen fortzusetzen.

Nach einem kurzen „Durchhänger“ hatten sie sich am 31. Mai 2019 wieder berappelt

So hielten es alle acht Kandidaten; keiner fiel der Entwurzelung und gewaltsamen Verpflanzung zum Opfer. Alle lebten sich am neuen Standort ein und taten es ihren Eltern gleich: Sie blühten, vermählten sich und zeugten Samenschoten.

Ich war angetan.

Doch auch die kleinen, langnasigen Besucher des Vorjahres taten es ihren Eltern gleich: Sie sammelten sich auf den frischen Schoten in großer Zahl und bohrten ihre Rüsselchen in das noch zarte Grün der schwellenden Schoten.

Rüssler auf Kohlschote mit weiterem Feind (oder Freund?) am 29. Juni 2019

Dieses Mal machte ich mir aber keine Sorgen, hatte ich doch im letzten Jahr keine erkennbaren Schäden ihrer Tätigkeiten wahrgenommen; aber – jetzt kommt schon wieder ein Aber: Aber dieses Mal sollte ich mich in falscher Sicherheit wiegen. Die üppigen Pflanzen gingen ein wie die Primeln; nur wenige Schoten hatten bis dahin ein ausreichendes Stadium der Reife erreicht.

Dahingegangene Pflanzen der Radieschensorte „Ostergruß“ nach der Rüssler-Invasion (7. Juli 2019)

Was sollte ich anderes tun, als in diese wenigen all meine Hoffnungen auf die Lebenserhaltung meines rot-violetten Radieschens zu setzen (ich gestehe, dass ich den Gedanken im Hinterkopf hatte, auch die restlichen Samen des Vorjahres noch in der Hinterhand zu haben).

Das Leben ging also weiter, und wenn ich ein ordentlicher Gärtner wäre, wäre es ohne die langsam verdorrenden Radieschen-Samenträger weitergegangen; aber als Gärtner, der zumeist etwas Besseres zu tun hat, als für Ordnung zu sorgen, ließ ich die Gerippe einfach als stumme Zeugen der Anklage gegen Schädlinge und Krankheiten jeglicher Art stehen.

So standen sie eine Weile im Kräuterbeet und wurden langsam von Nachbarkräutern bedrängt, bis – ja, bis wieder ein Zeichen und ein Wunder geschah: Aus einigen, der für tot erklärten Verzweigungen spross neues Leben. Und wie: Nach kurzer Zeit waren sie wieder so lebendig, wuchernd und mit Blüten übersät wie zuvor (nein, mehr!), so als hätten sie nie dem Tod ins Auge geblickt.

Kohlweißling auf weißen Radieschenblüten (11. August 2019)

Hell-violette Radieschenblüten am 17. August 2019

Die Rüssler bekamen von all dem nichts mit; meine neuen Wunder-Radieschen hatten ihnen ein Schnippchen geschlagen. Der Schotenansatz sah am 1. September üppig aus.

Nur: Würden die Samen noch reifen? Diese bange Frage umwölkte hin und wieder meine Gedanken.

Doch der „ewig-lange“ Sommer des vergangenen Jahres half: Am 5. Oktober hielt ich die Schoten für ausgereift (und trocken) genug, so dass ich die gesamten Pflanzen ausriss und für eine Weile zum Nachtrocknen unter Dach und Fach brachte. Die Schotenernte fiel deutlich besser als im Vorjahr aus.

Schotenernte am 19. Oktober 2019

Ein Haufen (fast) schotenfreies Radieschengestrüpp

Schoteninhalt: Samen

Schoten mit Löchern aber ohne Sameninhalt

Jetzt heißt es abzuwarten, ob sich die Anzahl der rot-violetten Radieschen in diesem Jahr erhöhen wird und ich ihrer Samenfestigkeit (und Sortenechtheit, wenn ich es denn jemals amtlich anmelden würde) schon ein Stück näher gekommen bin… formulierte ich Mitte Januar, als ich diesen Beitrag entwarf.

Einen ganzen langen (milden) Winter Wartezeit später

Endlich März! Endlich Zeit, die eigenen Möhren- und Zwiebelsamen auszusäen und die Reihen wieder mit eigenen Radieschensamen zu markieren (die Radieschen keimen viel schneller als die Möhren und Zwiebeln, was beim Betreten des Beetes zwecks Unkrautjätens oder -hackens von Vorteil ist, will ich das Markieren doch mal kurz erklären).

Radieschen markieren exakt meine nicht ganz exakten Zwiebelreihen (14. Mai 2020)

Und jetzt ist endlich Mitte Mai und die Zeit gekommen, die ersten Radieschen aus der Erde zu zupfen!

Was soll ich sagen, schon beim Näherkommen sehe ich den Erfolg meiner züchterischen Tätigkeit: Zahlreiche dunkelrot-violette Radieschen wölben sich aus der Erde.

Von oben betrachtet sieht das Radieschen schwarz-violett aus

Noch sind ein paar rote Radies dabei, aber die Mehrheit der bisher gezupften ist dunkelrot-violett.

Jetzt heißt es nur noch, den Zyklus zu wiederholen: Passende Radieschen ausgraben, zusammenpflanzen und zusammen blühen lassen – und hoffen, dass keine Kalamitäten auftreten, wie umtriebige Rüsselkäfer oder andere, noch unbekannte Vernichter von zarten Trieben und Hoffnungen.

Selektionsmaterial der anderen Art: Dieses Mal spielen Knollenform und Wurzelfortsatz die Hauptrolle

„Passend“ können ein Radieschen neben der Farbe natürlich auch noch andere Eigenschaften machen: dünner Wurzelansatz, flache, breite Verdickung oder frühe Reife oder oder oder.

Ja, simple Auswahl-Pflanzenzüchtung ist eigentlich garnicht schwer.

Wie gefallen Euch violette Radieschen?

Die violetten schmecken nicht anders als die roten (würde ich sagen)

Wie immer habe ich auch in diesem Fall Saatgut an diejenigen zu verschenken, die sich an diesem Auswahl-, Experimentier- und Saatgut-Selbstversorgungsspaß beteiligen wollen – und natürlich an der ernsthaften Angelegenheit, die genetische Vielfalt der Nutzpflanzen zu vermehren.

Ganz zum Schluss mache ich die wirklich ausdauernden Leser*innen unter Euch noch mit einer schaurigen Entdeckung bekannt, die ich dieser Tage bei der Radieschenernte machen musste: Einige Radieschen waren vollkommen farblos, also richtige „Zombie-Radieschen“!

In meinem beschaulichen, chemie-freien, okolögisch einwandfreien Garten sollten solche schrecklichen, blassen Mutanten entstanden sein!? Wie konnte das passieren? Sollten Ausdünstungen des nahegelegenen Petro-Chemischen-Kombinats (PCK) mutagen gewirkt haben?

Markierungsradieschen in Weiß

Ich werde aber auch von keiner vermehrungsfähigen Abart(igkeit) verschont!
Wo soll das alles enden?