Friedhof der Stachelbeeren

oder: Warum ich meine Stachelbeersämlinge „Maurers Sämling (1 bis 105)“ nenne.

Das Beitragsbild erinnert ohne Zweifel an einen Soldatenfriedhof: Grabsteine von hunderten, tausenden, oft ohne Namen begrabenen Männern; aber hier geht es um Stachelbeeren, die in einem Buch begraben liegen. Es geht aber auch um meine kleine Stachelbeersämlingsplantage, deren Abbildung jetzt an einen Friedhof erinnert, die aber genau das Gegenteil davon ist: ein Ort der Wiederauferstehung (Ja, es war Ostern, als das Bild entstand!), der Wiederauferstehung der Stachelbeervielfalt.

Die Grabstätte aus Papier, die ich heute bekannt(er) machen möchte, ist „Maurer’s Stachelbeerbuch über die besten und verbreitetsten Stachelbeersorten“.

Die etwas ältere Stachelbeeranlage, die ich nun noch etwas erweitert habe (der Rhabarber kommt wech)

Ich hatte den Verlag, der das Werk im Quart-Format veröffentlicht hat (Eugen Ulmer, Stuttgart), neulich angefragt, ob ich die wunderbaren, kolorierten Bildtafeln veröffentlichen dürfe, auf denen alle Früchte der im Buch beschriebenen 134 Sorten dargestellt sind.
Die Antwort lautete: „Es ist generell so, dass die Rechte an Büchern oder Illustrationen aus Büchern 70 Jahre nach dem Tod des Autors gemeinfrei werden, also von jedermann reproduziert werden dürfen. Laut meinen Unterlagen ist Maurers Stachelbeerbuch 1913 erschienen, der Autor auch im Jahr 1913 verstorben. Somit ist das Material mittlerweile frei und darf von Ihnen verwendet werden.“

Es ist also erlaubt – und deshalb tue ich das hiermit (alle Tafeln wurden von dem Jenaer Lithographen Adolf Giltsch erstellt).

Vor kurzem ist das prachtvolle Werk (endlich) auch vom Verein „Deutsche Gartenbaubibliothek“ an der TU Berlin digitalisiert worden; damit ist das Grab der Stachelbeervielfalt für Jedermann und Jedefrau zugänglich.

Tafel I: Rotfrüchtige Stachelbeeren I

Rotfrüchtige II

Tafel II: Rotfrüchtige II

Tafel III: Rotefrüchtige III

Tafel IV: Rotfrüchtige IV

Die Förderung der Stachelbeerkultur bedeutet das Ende der Stachelbeervielfalt

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass gerade Louis Maurer, der die Stachelbeervielfalt in seinem Buch festgehalten hat, auch als ihr Totengräber bezeichnet werden muss; denn dieser Beerenobstzüchter hoffte, mit seinem Buch die Stachelbeerkultur in Deutschland zu befördern und voranzubringen, wie er im Vorwort seines Buches schreibt (das gesamte Vorwort habe ich unten dokumentiert):

„Von den in den letzten 17 Jahren in der Öffentlichkeit behandelten Bestrebungen zur Hebung der Beerenobstkultur ist keine von so einschneidendem, fördersamen Einfluß gewesen, als die Empfehlung von anbauwürdigen Beerenobstsorten seitens des Deutschen Pomologen-Vereins 1896 in Kassel. In dem dort empfohlenen Hausgartensortiment findet der Besitzer kleiner Gärten seine Bedürfnisse befriedigt, des weiteren findet man die Sorten verzeichnet, welche der Großanbau für die Wein- und Marmeladenbereitung fordert, und wer besonders frühe braucht, kann sich die betreffenden Sorten unter den dort angegebenen auswählen. So ist in dem Sortiment allen Erfordernissen Rechnung getragen.“

Ja, er hat die erste Einschränkung der damaligen Vielfalt auf eine begrenzte, anbauwürdige Anzahl an Sorten vorbehaltlos begrüßt – und nichts anderes bedeutet „Förderung der Stachelbeerkultur“: Verringerung von unbegrenzter Vielfalt, Einschränkung auf Individuen mit bestimmten, bevorzugten Merkmalen, die dann als „Sorten“ vermehrt und vermarktet werden…

Dass die Zahl der anbauwürdigen Sorten im Laufe der folgenden Jahrzehnte durch zunehmend höhere Ansprüche von Anbauern, Handel und auch Verbrauchern, durch „Marktwirtschaft“ (statt „Selbstversorgung“) auf immer weniger Sorten eingeschränkt wurden, konnte er nicht ahnen.

Für den Hausgarten stehen zur Zeit nur noch drei Sorten regelmäßig zur Verfügung: Hinnonmäki Rot, Grün und Gelb oder ein paar andere Sorten, wie „Invicta“ (1980), „Redeva“ (2000) oder „Rolonda“ (1987), die unter den 19 Sorten der „Beschreibenden Sortenliste Strauchbeerenobst (2002)“ des Bundessortenamtes zu finden sind.

Die drei Hinnonmäkis (unbezahlte Werbung)

Louis Maurer hat sich damals außerordentlich viel Mühe gegeben, seine vielen Sorten exakt zu beschreiben, damit sie exakt bestimmt und auseinandergehalten werden konnten; er hat dafür gesorgt, dass sie zu verkaufsfähigen „Sorten“ wurden.

Trotz dieses Aufwands konnte Louis Maurer mit seinem Buch kaum eine der 54 roten, 31 grünen, 35 gelben und 20 weißen Stachelbeersorten retten, die er in seinem Buch ausführlich dargestellt hat. Die allermeisten sind dem Fortschritt zum Opfer gefallen; aber was er mit seinem Buch getan hat, ist nicht weniger wertvoll: Er hat die Erinnerung an sie bewahrt.

Sein Buch hält die Erinnerung daran wach, welche Stachelbeervielfalt es einmal gab. Außerdem kann es vielleicht den Glauben daran wecken, dass es diese Vielfalt auch in Zukunft wieder geben kann; denn ich glaube…

Ach, lest erst einmal, wie genau und liebevoll Herr Maurer seine Beeren beschrieben hat (mir wäre das viel zu viel Aufwand; aus diesem Grunde werde ich wahrscheinlich auch niemals ein Züchter, sondern für immer ein Vielfaltsmehrer bleiben…)

Sortenbeschreibung

Beispiel, wie jede Sorte von Louis Maurer beschrieben und dargestellt wurde (ob bei dieser Sorte auch Eigenwerbung mitschwingt, möchte ich offenlassen; immerhin hat Herr Maurer auch eine gewerbliche Gärtnerei betrieben):

Sämling von Maurer. H. Maurer.
(Abbildung 64. — Farbtafel III. 39. a. b.)
Pomol. Mon. H. 1887 S. 98 — L. Maurer B. Str. S. 26.

Sämling von Maurer ist eine deutsche Stachelbeere, welche vor ungefähr 60 Jahren von Heinrich Maurer in Jena gezüchtet wurde. Die Sorte hat in Deutschland eine große Verbreitung gefunden. Überall schätzt man ihre ansehnliche und vortrefflich schmeckende Beere und ihren fruchtbaren Strauch. Der D. P.-V. hat Sämling von Maurer im Jahre 1896 zur Anpflanzung in Hausgärten und zum Massenanbau empfohlen. Im Auslande, mit Ausnahme von Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark kennt man die Sorte wenig. In England wird sie durch ähnliche Formen ersetzt. Als einen Doppelnamen des Sämling von Maurer hat W. Dürkop in den Pom. M.-H. 1897, S. 212 die Bezeichnung Queen of Queens klar nachgewiesen. Unter diesem Namen hatten vor 20 Jahren einige norddeutsche Baumschulen den Sämling von Maurer längere Zeit in ihren Katalogen geführt und verkauft. Jetzt begegnet man diesem Irrtum nur noch selten.

Strauch sehr kräftig wachsend, dauerhaft, groß, lichtkronig, von ungemeiner Fruchtbarkeit; für Haus- und Obstgärten, nach ausgiebigen Erfahrungen auch in freier Lage gut gedeihend; Langtriebe abstehend, schlank, Spitzen meist stachellos, untere Stengelglieder zerstreut stachelborstig; Winterknospen kräftig entwickelt; Stacheln einfach, lang; Blätter mit drei oder fünf spitzen oder stumpfen Lappen.

Beere ziemlich früh reifend, sehr groß, 17 ccm, Form veränderlich, rundlich, bisweilen rund, auch birnförmig, oft schief, am Stielchen und an der Kelchwölbung oft abgeplattet; Hauptadern am Stielchen flach eingesenkt, hier mitunter in der Richtung der Adern, 0,5—0,75 mm tief aufgerissen; Samen nicht durchscheinend; Schale dünn, hellrot marmoriert, später gleichmäßig dunkelpurpurrot mit einzelnen schwarzen Flecken, ziemlich dicht- und lang drüsenborstig, auch zerstreut kurzflaumig; Adern gelbrot, in der Reife kaum sichtbar; Atmungsflecken groß und mittelgroß, locker gereiht; Kelch meist geschlossen, auch unvollständig, selten halboffen; Stiel halb bis doppelt so lang wie das Stielchen, beide bis 27 mm; das eine Vorblättchen am Stiele oft zu einem Laubblatt entwickelt.

Geschmack süß, mit feiner Säure gewürzt.
Zum Rohgenuß und Einkochen bestgeeignet und wegen des reichen Gehaltes ihres Saftes an Extraktivstoffen zur Weinbereitung vortrefflich.

Ferner seien als hierher gehörig kurz erwähnt:

1. In Emperor, Smith (Illustr. Handb. S. 22) kann ich nur eine dem Sämling von Maurer nach Farbe, Behaarung und Wuchs sehr ähnliche, nach ihrer Form allerdings konstanter runde Beere, aber nach ihrer Fruchtbarkeit keine ebenso hoch stehende Sorte erblicken. In den Baumschulkatalogen findet man Emperor bisweilen verzeichnet. Die von Pansner, S. 6, 19 beschriebene Emperor, Gorton ist eine rote, kahle, rundliche, spätreifende Beere, also verschieden von Emperor, Smith.

2. Im Illustr. Handb. S. 20 und im Deutsch. Obstcab. VI. Sect. 2. Lief. ist eine der Sämling von Maurer nahestehende Stachelbeere Queen Mab, Williamson beschrieben und abgebildet. Dieselbe hat im Laufe der Zeit eine ziemliche Verbreitung gefunden. Der Unterschied zwischen beiden besteht nach meinen Beobachtungen darin, daß Sämling von Maurer einen kräftigeren und dichteren Wuchs und eine größere Fruchtbarkeit besitzt, auch durchschnittlich größere Beeren trägt als Queen Mab, um es kurz zu sagen, eine verbesserte Form der Queen Mab darstellt.

3. Keen’s Seedling, Pansner, S. 21, 448 und Illustr. Handb., S. 27, siehe auch unter Keen’s Seedling, Warrington.

4. Eine dem Sämling von Maurer entfernter stehende, durchaus selbständige englische Sorte ist Forester, Etchells — Rob. Hogg, S. 346 —. Dieselbe unterscheidet sich von Sämling von Maurer durch ihre auffallend gleichmäßig entwickelten, fast ausschließlich rundlichen, kürzer und feiner drüsenborstigen auch einige Tage später reifenden Früchte. Der Strauch von Forester wächst weniger kräftig, auch nicht so dicht wie Sämling von Maurer, aber aufrecht. In Farbe, Größe und Geschmack sind beide gleich.

5. Auch die bekannte Lancashire Lad, Hartshorn sei noch kurz erwähnt. Diese alte bewährte Stachelbeere gehört ebenfalls zu der Sortengruppe, als deren vollkommenster Repräsentant Sämling von Maurer angesehen werden kann. Lancashire Lad war den deutschen Beerenobstschriftstellern schon vor 60 Jahren bekannt, nicht aber den deutschen Beerenobstzüchtern und Baumschulenbesitzern. In England hat sie eine allgemeine Verbreitung gefunden. Lancashire Lad unterscheidet sich von Sämling von Maurer dadurch, daß ihr Stiel und Stielchen kürzer (20—30 mm), ihre Stacheln 1—2-teilig und die Drüsenhaare ihrer Früchte kürzer und schwächer sind, auch erheblich zerstreuter stehen als bei Sämling von Maurer.

Abbildung 64. Sämling von Maurer H. Maurer


Ich bin der festen Überzeugung – und habe dafür mittlerweile auch einen Beweis in Händen:

Die Stachelbeersorten sind nicht tot, sie schlafen nur

Stachelbeeren sind heute out, ganz klar. Den meisten Menschen sind sie zu stachelig, zu säuerlich, zu niedrig wachsend (trotz Hochstämmchen) – oder mittlerweile auch fast schon nicht mehr bekannt. Mit dem vielen süßen Obst aus aller Welt können sie nicht konkurrieren.

Gibt es irgendwo noch Menschen, die um die verlorene Stachelbeervielfalt trauern, die gerne wissen möchten, wie unterschiedlich Stachelbeeren nicht nur aussehen, sondern auch schmecken können?

Was? Es meldet sich niemand?

Ihr wisst nicht, was Ihr verpasst!

Diejenigen von Euch, die ich nun neugierig gemacht habe und die nur mal das Aussehen verschiedener Stachelbeersorten kennenlernen möchten, die können nun immerhin zum virtuellen Grab der „Unbekannten Stachelbeere“ pilgern und sich am Anblick der vergangenen Vielfalt der Stachelbeeren laben.

Oder Ihr könnt eine Reise nach Riehen (bei Basel) in die Schweiz unternehmen und dort das „Lebendmuseum“ für Beerenobst besuchen, dessen stachelbeeriger Teil neulich ebenfalls in einem gediegenen Bildband verewigt wurde, in „Stachelbeeren – Sortenvielfalt und Kulturgeschichte“.

Aber was machen diejenigen, die die Vielfalt der Stachelbeeren auch schmecken möchten?

Tafel V: Grünfrüchtige I

Tafel VI: Grünfrüchtige II

Tafel VII: Grünfrüchtige III

Für diejenigen, die das Bedürfnis haben, die Vielfalt der Stachelbeeren auch mit der Zunge erleben zu wollen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Sie müssen zur Reifezeit der Stachelbeeren meinen Garten besuchen – oder selbst 200 Stachelbeerbüsche aus Samen ziehen!

Noch scheint es möglich zu sein, wieder neue Stachelbeervielfalt erstehen zu lassen. Noch scheinen genügend Gene auch in den wenigen Sorten zu schlummern, die der Handel bietet, sowie in den alten Büschen, die noch einige Leute in ihren Gärten pflegen, oder in Stachelbeersträuchern, die hier und da verwildert sind. Noch können sich all diese Gene mischen!

Tafel VIII: Gelbfrüchtige I

Tafel IX: Gelbfrüchtige II

Tafel X: Gelbfrüchtige III

Ich hatte 2012 nur einen Busch mit rot-braunen Beeren im Garten; jetzt habe ich knapp 200 Büsche, die aus Samen entstanden sind und die auch grüne, gelbe, violette und vielleicht sogar weiße Früchte tragen.

Mir scheint, dass es vielleicht nur eine begrenzte Anzahl an Frucht-, Wuchs und Geschmackstypen gibt, die innerhalb einer Obstart vorkommen können.

Tafel XI: Weißfrüchtige I

Tafel XII: Weißfrüchtige II

Die zahlreichen Beispiele für sehr ähnliche Sorten, die Louis Maurer bei der Beschreibung der Sorte „Sämling von Maurer“ (siehe seine obige Sortenbeschreibung) anführt, lassen mich das vermuten, aber auch, dass einige meiner Früchte große Ähnlichkeit mit den Sorten aufweisen, die er beschrieben hat.

Wie auch immer, es ist ein elektrisierendes Gefühl, zwischen blühenden Stachelbeerbüschen zu sitzen und die Insekten von Blüte zu Blüte fliegen zu sehen: Welche neuen Varianten mögen sie schaffen, welche Mutationen werden passieren? Wie werden die Früchte an den neuen Büschen aussehen und schmecken?

Insekten umschwirren mich (wie Motten das Licht); am 19. April in meiner Stachelbeeranlage

Ach, könnte ich nur tausende von Büschen ziehen, um die ehemalige Vielfalt vollständig wiederherstellen!

Aber einfacher wäre es natürlich, wenn Tausende von Euch jeweils nur einen Busch aus Samen ziehen würden, damit aus dem „Grab der Toten Stachelbeere“ viele „Haine der Wiedergeburt“ werden; ein Ansichtsexemplar habe ich Euch in „Geburt der Vielfalt“ bereitgestellt…

Noch ist die Vielfalt der Stachelbeeren nicht wirklich tot, noch kann sie aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt werden! Wie leicht das geht, habe ich in „Beerbeetuum mobile“ beschrieben…

Tafel XIII: Kleinfrüchtige I

Tafel XIV: Kleinfrüchtige II

Materialien zu „Maurer’s Stachelbeerbuch“

Biografische Notizen über die Beerenobstzüchter Heinrich und Louis Maurer

Heinrich Maurer (15.12.1818 – 06.09.1885)
Louis Maurer (24.7.1850 – 31.3.1913)
„Die Beerenobst-Gärtnerei der Familie Maurer in Jena erwarb sich zwischen 1842 und 1911 einen Ruf, der weit über die Stadt hinausreichte. Gefragt waren das Wissen und die Pflanzen von Heinrich und Louis Maurer in ganz Europa.“
Heinrich Maurer, 1818 in Luckenwalde/Brandenburg geboren, übernahm 1842 eine Gärtnerei in Jena, in der er während seiner Lehrzeit als Gärtner gearbeitet hatte. Sein Interesse galt vor allem dem Beerenobst und hier besonders den Stachelbeeren. Seine Sammlung umfasste über 500 Sorten.
Nach dem Tode des Vaters 1885 übernahm sein Sohn Louis die Gärtnerei und führte sie erfolgreich fort. 1911, mit 61 Jahren, gab er den Betrieb jedoch auf und übergab große Teile seiner Beerenobstbestandes an Ernst Macherauch in Weimar. Kurz nach Veröffentlichung des „Stachelbeerbuches“ starb er jedoch und wurde in der Familiengrabstätte der Maurers auf dem Johannisfriedhof in Jena begraben. (aus: 07 – Das Stadtmagazin für Jena und Region, Ausgabe 93, November 2017, S. 20 – 22)

Ernst Macherauch führt 1928 noch 55 Stachelbeersorten in seinem Katalog an, 1936 noch 28; der Trend ist eindeutig.

„Maurer’s Stachelbeerbuch“ sowie weitere Bücher über Stachelbeeren

Louis Maurer: Maurer’s Stachelbeerbuch über die besten und verbreitetsten Stachelbeersorten, Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 1913
Heinrich Maurer: Illustriertes Handbuch der Obstkunde, Band VII, Beerenobst (ab Seite 193), Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 1875
Johann Heinrich Lorenz Pansner (Hrsg: Heinrich Maurer): Versuch einer Monographie der Stachelbeeren, Verlag Carl Doebereiner, Jena, 1852
Claudio Niggli, Martin Frei: Stachelbeeren – Sortenvielfalt und Kulturgeschichte, Verlag Haupt, Bern, 2019

Das Vorwort aus „Maurer’s Stachelbeerbuch“

Vorwort.

Seit dem Jahre 1867 ist eine größere selbständige pomologische Arbeit über die Kulturformen des Stachelbeerstrauches in Deutschland nicht erschienen. Die letzte Arbeit war das Beerenobstheft des Illustr. Handb. der Obstkunde von Heinrich Maurer (S. 193). Diese Tatsache, sowie die unbestritten großen Fortschritte, welche die Stachelbeerkultur gerade in den letzten Jahrzehnten in Deutschland gemacht hat, lassen eine Neubearbeitung des Gegenstandes für hinreichend begründet erscheinen. Sie schien mir auch um so angezeigter, als jeder weiß, daß gerade in der Stachelbeersortenkenntnis noch heute viele Irrtümer und Mißverständnisse herrschen, zu deren Beseitigung diese Arbeit vor allem beitragen soll. Schon oft bin ich sowohl von Fachleuten als auch Freunden des Obstbaues zu früherer Veröffentlichung meiner Beobachtungen gedrängt worden; allein die Überzeugung, daß nur ein auf längere Beobachtungen und Erfahrungen basierendes Urteil die Sache fördern könnte, bestimmte mich, von vorschnellen Publikationen abzusehen. Wenn die ersten Exemplare dieses Buches in die Hände der Beerenobstfreunde gelangt sind, werden über zwei Jahrzehnte verflossen sein, in welchen ich die mir verfügbare freie Zeit dieser Arbeit gewidmet habe. Zuerst mußte ich, und darüber vergingen fast zehn Jahre, ein neues korrektes Sortiment in meinen Anlagen aufstellen, manche Irrtümer in meiner alten Sammlung beseitigen und durch Neubezüge manche verloren gegangene Sorte zu ergänzen suchen. Dies war eine sehr mühsame, an Enttäuschungen überreiche Vorarbeit, die mich beinahe entmutigt hätte, das gesteckte Ziel weiter zu verfolgen. Allein die Überzeugung von der Bedeutung einer rationellen Stachelbeerkultur ließ mich nicht erlahmen, auf dem betretenen Wege fortzuarbeiten, und ich muß heute beim Abschluß meiner Arbeit sagen, daß mich ihre Resultate überaus befriedigt haben, indem ich jetzt fest davon überzeugt bin, daß man sich nach exakter Vorarbeit über das Stachelbeersortenmaterial ebensogut verständigen kann wie über die Kulturformen jedes anderen unserer Obstgehölze, vielleicht sogar auf dem Gebiete der Stachelbeeren noch besser. Eine weitere Schwierigkeit bei der Arbeit brachte die vielfach zutage tretende Unzulänglichkeit der Literatur. Abgesehen davon, daß sehr beachtenswerte Arbeiten englischen Ursprungs sind, also aus einer, von der unseren verschiedenen Beobachtungsbasis stammen, leiden sie an allzu großer Kürze und an Vernachlässigung der Wachstumseigenschaften dieses Strauches. Für die Wertbemessung einer Sorte ist beim Engländer die Größe der Beere das Wichtigste, für uns aber nicht minder auch andere Eigenschaften des Strauches. Können wir aber die Unterscheidungsmerkmale nicht in der Beere finden, dann finden wir sie vielleicht im Strauch, weil die Vegetationsunterschiede konstanter entwickelt sind, als die von dem Grade der Kultur abhängigen Eigenschaften der Beere.

Auch bei anderen Obstgehölzformen legt man auf die Wachstumsverhältnisse jetzt eine viel größere Bedeutung als früher.

Der letzte Punkt, der die Beendigung der Arbeit verzögerte, lag insofern im Objekt selbst, als die Reifezeit der Früchte oft durch hohe Wärmegrade sehr rasch und plötzlich vorüberging.

Diejenigen Momente nun, welche die Arbeit sehr förderten, waren erstens die überaus günstigen Wachstumsbedingungen, welche die Kulturformen der Stachelbeeren in meinen Baumschulen, in denen der Boden in der Nähe des Saaleflusses fast alljährlich normale Beeren entwickelte, fanden, so daß die Beobachtungen keine Unterbrechungen erlitten; zweitens konnte ich weiterbauen auf den fast vierzigjährigen Erfahrungen meines sel. Vaters, welcher durch frühes Erkennen und Ergreifen des Gegenstandes den richtigen Wert dieses wichtigen Zweiges der Obstkultur in zahlreichen Schriften, welche er der Öffentlichkeit übergab, bewiesen hat.

Wenn es drittens richtig ist, daß selbst exakte Beschreibungen durch wirklich gute Abbildungen in ihrem Werte sehr gehoben werden können, so habe ich die Richtigkeit dieser Tatsache bei der vorliegenden Arbeit empfunden. Ich muß es daher als besonders dankbar anerkennen, daß ich in unserem leider zu früh verstorbenen Meister Ad. Giltsch einen Künstler gefunden habe, der sich der Herstellung der Originalbilder mit großem Eifer und einem selten feinen Empfinden für die typischen Eigenschaften der einzelnen Sorten gewidmet hat und das Ganze hierdurch wesentlich fördern half.

Thüringen ist seit annähernd 70 Jahren in Deutschland die Hauptförderstelle des Obstbaues, besonders des Beerenobstbaues gewesen, die Arbeiten seiner Hauptförderer haben auch im Auslande, besonders in den nordischen Ländern Europas, Beachtung gefunden; zahlreiche Sachverständige aus jenen Ländern haben unsere Kulturen besucht und unsere Beobachtungen und Erfahrungen in ihre Heimat getragen. — Der Stachelbeerstrauch ist wohl das zur Varietätenbildung geneigteste Obstgehölz, die Zahl seiner beschriebenen Formen eine ungemein große. Indes ein großer Teil derjenigen, welche Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannt wurden, und in großer Zahl auftauchten, — dieser Höhepunkt der Stachelbeerneuzüchtungen — ist wieder verschwunden. Diese Tatsache hat mir vor allem mit die Richtung dafür gegeben, in welcher sich die Sortenwahl für eine Arbeit, wie die vorliegende zu bewegen hat; soll sie sich nicht im Zweck- und Endlosen verlieren. Anderseits meine ich, daß Sorten, welche sich nachweislich über 100 Jahre in der Kultur erhalten haben, und durch den Nachwuchs des Neuen nicht verdrängt worden sind, ihren hohen Wert doch sicher beweisen. Ein derartiger gewissenhafter Nachweis fehlte aber bisher und die frühere Literatur zeigt uns, daß viel umfangreichere pomologische Stachelbeerarbeiten nur vorübergehend Beachtung gefunden, die Stachelbeerkultur also nicht gefördert haben. Wenn ich den Beschreibungen der Hauptsorten eine Anzahl kurz charakterisierter ähnlicher Varietäten beigefügt habe, so wollte ich dadurch hauptsächlich Mißverständnisse, welche durch Sortenähnlichkeiten vorkommen, vorbeugen. Eine besondere Beachtung glaubte ich den kleinfrüchtigen, wegen ihres Aromas hochgeschätzten Formen, schenken zu müssen. Die Sortenkenntnis dieser kleinen Beeren ist bei uns bis jetzt eine sehr geringe, sie sind in den deutschen Baumschulen kaum erhältlich, und ich habe sie deshalb innerhalb der einzelnen Farbenabteilungen auf besonderen Tabellen zusammengestellt, um so ihre charakteristischen Eigenschaften übersichtlicher hervorheben zu können. Zum Studium dieser kleinfrüchtigen Sorten empfehle ich jedem die Arbeit von Rob. Thompson in The Transact. of the Horticult. Society of London 1835; man staunt hier über das abgeklärte Urteil eines Mannes vor 80 Jahren.

Von den in den letzten 17 Jahren in der Öffentlichkeit behandelten Bestrebungen zur Hebung der Beerenobstkultur ist keine von so einschneidendem, fördersamen Einfluß gewesen, als die Empfehlung von anbauwürdigen Beerenobstsorten seitens des Deutschen Pomologen-Vereins 1896 in Kassel. In dem dort empfohlenen Hausgartensortiment findet der Besitzer kleiner Gärten seine Bedürfnisse befriedigt, des weiteren findet man die Sorten verzeichnet, welche der Großanbau für die Wein- und Marmeladenbereitung fordert, und wer besonders frühe braucht, kann sich die betreffenden Sorten unter den dort angegebenen auswählen. So ist in dem Sortiment allen Erfordernissen Rechnung getragen. In der Vorversammlung 1894 in Erfurt fand die Revision der zu empfehlenden Sorten statt. An dem Zustandekommen dieser Empfehlung hat sich der damalige I. Vorsitzende des Vereins, Ökonomierat Franz Späth durch große Energie und reiche Sachkenntnis bleibende Verdienste erworben, was ihm nicht vergessen sein soll. Aber auch den Baumschulenbesitzern war mit der Empfehlung ein großer Dienst erwiesen. Sie wußten nun, welche Sorten sie in Massen, welche in kleiner Anzahl vermehren mußten. Und sie taten es auch. Sie nahmen die empfohlenen Sorten sämtlich in ihre Kataloge auf. Gleichzeitig mit der Empfehlung der 26 Sorten erfolgte durch mich in Kassel eine Verdeutschung von 26 englischen Sortennamen. Es geschah dies auf Späths Anregung; heute, nach kaum 15 Jahren, sind sie so gut wie eingeführt, so daß ich zur Bestellzeit kaum einen Auftrag unter hundert bekam, in welchem noch die englischen Namen verzeichnet waren.

Mögen die vom Deutschen Pomologen-Verein empfohlenen Stachelbeersorten bei der Neuanlage von Anpflanzungen immer mehr Verwendung finden, denn dies liegt im Interesse der Fortschritte des Beerenobstbaues. Beim Abschluß meiner Arbeit sehe ich mich veranlaßt, dem Verlagsbuchhändler Herrn Eugen Ulmer in Stuttgart und dem Lithographen Herrn Eduard Giltsch in Jena meinen verbindlichsten Dank für das große Interesse, welches sie bei Zustandekommen des Werkes betätigt haben, auszusprechen. Die Verlagsbuchhandlung hat unter Zuschuß bedeutender materieller Mittel und Herr Giltsch unter Einsetzung seiner ganzen künstlerischen Kraft das Bildwerk des Buches gefördert, so daß es sich in einer so vortrefflichen Weise dem Beschauer zeigt. Ferner bin ich meinem Kollegen, Herrn Garteninspektor Ernst Rettig in Jena, welcher während meiner Erkrankung die Drucklegung meines Buches mit Hingabe und Sorgfalt in freundlichster Weise überwacht hat, zu aufrichtigem Dank verbunden.