Landsorten braucht das Land

oder: Was „Landsorten“ sind und wozu wir sie unbedingt (wieder) brauchen.

Liebe Leser:innen, die Ihr mir bis jetzt die Treue gehalten habt, obwohl ich Euch zuletzt viel trockenes, theoretisches „Brot“ über Nutzpflanzenvielfalt und Züchtung vorgesetzt habe, das für das praktische Gärtnern auf den ersten Blick ohne Belang erscheint, ich bitte Euch noch um ein klein wenig mehr Geduld; denn heute geht es um Alles, um das Lebenswichtigste, um die Zukunft…

Wenn Ihr bald wieder Samen in die Hand nehmt und den kleinen Pflänzchen, die aus ihnen hervorkommen, beim Wachsen zuschaut, dann wünsche ich mir, dass Ihr einen Moment innehaltet und Euch vorstellt, dass diese Samen und Pflänzchen das Glied in einer schier endlosen Kette sind, die tausende von Jahren in die Vergangenheit reicht und (hoffentlich) noch tausende von Generationen in die Zukunft: Aus Samen entstehen Pflanzen und aus den Pflanzen wieder Samen und immer so weiter…

Ich wünsche mir aber auch, dass Ihr sehen könntet, wie dünn diese Kette heute geworden ist, so dünn, dass sie jederzeit reißen kann. Ein kleiner Wackler des Erdballs würde genügen, um sie reißen zu lassen: Von den heutigen, wenigen, einheitlichen Varianten unserer Nutzplanzen-Arten wird die Umweltveränderungen, die der Wackler sicher verursachen wird, vielleicht keine überleben…

Ich wünsche mir, dass Euch bewusst ist, dass an Samen und Nutzpflanzen unser Leben hängt, dass wir ohne sie nicht leben können.

Vier Häufchen mit unterschiedlichen Roggenkörnern

Landsorten-Roggenkörner

Zuletzt wünsche ich mir, dass Ihr Euch als diejenigen erkennt, die wieder für dickere Kettenglieder sorgen können, indem Ihr bewusst für eine lebendige Vielfalt der Lebensmittelpflanzen in Euren Gärten und auf Euren Feldern sorgt, für eine neue Vielfalt an Individuen.

Ihr müsst wissen, dass die dicke Kette aus vielfältigen Individuen unserer Lebensmittelpflanzen, an der wir uns durch die Jahrtausende gehangelt haben, an der ewige Zeiten unser Leben hing, irgendwann „Landsorten“ genannt wurde…

…deshalb habe ich noch einen letzten Wunsch: Ich wünsche mir, dass Ihr wissen wollt:

Was sind Landsorten genau und warum sind sie so lebenswichtig?

Als „Landsorten“ (engl. „landraces“) werden die Populationen von Nutz- oder Kulturpflanzen-Arten bezeichnet, von denen die Menschheit 10.000 Jahre lang gelebt hat. Seit dem Jahr 1900 unserer Zeitrechnung verschwanden sie aber nach und nach und sind hier und heute gänzlich verschwunden. Landsorten sind so vollkommen aus unserem Bewusstsein getilgt, dass mancheine:r nicht glauben kann, dass man ihre Früchte essen und genießen konnte.

Landsorten werden seitdem bestenfalls als wertvolle, „pflanzen-genetische Ressourcen“ betrachtet, von denen – im besten Falle – sicherheitshalber ein Satz ihrer häufigsten Gene, ihr „Gen-Pool“, in Gen-Banken konserviert wird (wer Englisch beherrscht und wissen will, wie dieser Durchschnitts-Gen-Pool ermittelt wird, kann das in „Optimum sampling strategies in genetic conservation“ nachlesen).

Aber ansonsten interessieren Landsorten niemanden mehr…

Ich möchte behaupten, dass mit dem Aussterben der Landsorten auch das Wissen verloren gegangen ist, was „Landsorten“ genau sind. Von wissenschaftlicher Seite wird dieses Nicht-Wissen mit den Worten bestätigt: „Weil Landsorten eine komplexe und undefinierbare Natur besitzen, kann es keine allumfassende Definition für sie geben“ / „As a landrace has a complex and indefinable nature an all-embracing definition cannot be given.“ (aus „Landraces: A review of definitions and classifications“ von Anton C. Zeven, 1998).

Entschuldigt bitte, wenn ich an dieser Stelle laut werde und vielleicht sogar schreie; denn ich rege mich gewaltig auf über die mangelnde Scharfstellung des Blicks, die verhindert, das eindeutige Merkmal zu erkennen, welches Landsorten auszeichnet.

Ja, Landsorten haben ein eindeutiges Erkennungsmerkmal!

Möglicherweise liegt die „Unsichtbarkeit“ dieses Merkmals auch daran, dass Landsorten das Wort „Sorten“ im Namen tragen und deshalb allzu leicht für gewöhnliche – manche sagen „traditionelle“ oder „primitive“ – Sorten gehalten werden. Wenn der Blick darauf fixiert ist, „Sorten“ zu sehen, kann das Wesentliche der Landsorten schwerlich erkannt werden; denn Landsorten haben mit „Sorten“, wie wir den Begriff heute verstehen und ihn zumeist verwenden, rein garnichts gemein.

„Sorten“, genauer „Zucht-Sorten“ gibt es erst seit ungefahr 1900, „Landsorten“ existierten, wie gesagt, schon seit ewigen Zeiten.

Ich habe im Beitrag „Die Kehrseite der Pflanzenzüchtung“ beschrieben, welche Erkenntnisse gewonnen werden mussten, um überhaupt Sorten züchten zu können (nein, es waren in diesem Fall nicht die Vererbungsregeln des Gregor Mendel!): Es mussten die Vorteile der Inzucht entdeckt werden! Ohne Inzucht gibt es keine Zucht-Sorten

Alle Sorten, die ab 1900 in Verkehr gebracht wurden, sind Inzucht-Sorten und können deshalb als moderne Sorten von allen früheren, „traditionellen Sorten“ grundsätzlich unterschieden werden, auch wenn einige Menschen einen Teil von ihnen gern als „historische“ oder „alte“ Sorten bezeichnen und von „moderneren“ Sorten abgrenzen will; aber alte/historische und moderne Sorten unterscheiden sich nicht; sie sind „Zucht-Sorten“, Sorten im heutigen Sinne, moderne Sorten.

Landsorten dagegen unterscheiden sich grundsätzlich und fundamental von diesen modernen Sorten, da sie eben keine Sorten sind, wie Ihr jetzt sehen werdet…

Wodurch unterscheiden sich Landsorten und Zuchtsorten?

Zuerst möchte ich Euch (noch einmal) darlegen, was „Sorten“ (Zucht-Sorten) auszeichnet.

Das Merkmal moderner (alter, historischer, modernerer und modernster) Sorten

Wie soeben schon angedeutet, sind moderne Sorten dadurch charakterisiert, dass alle Individuen einer Sorte von nur einem Ausgangsexemplar abstammen. Moderne Sorten entstehen durch gelenkte Inzucht, werden durch Inzucht vermehrt und erhalten. Sollten „Abweicher“ auftreten, werden diese aus-sortiert. Die Individuen einer Zucht-Sorte sind deshalb genetisch außerordentlich einheitlich (homozygot/reinerbig).

Das soll auch so sein: Sorten sollen „sortenecht“ und „samenfest“ sein, d. h., ihre Samen sollen möglichst homogene, gleichartige Individuen liefern (Ihr wollt ja wissen, was Ihr erntet und esst, oder?)

Bei Hybrid-„Sorten“ bezieht sich das zuvor gesagte auf die „Linien“, mit denen das F1-Hybrid-Saatgut produziert wird. Diese Linien müssen ebenfalls einheitlich und „samenfest“ sein, damit ihre Nachkommen, die F1-Hybride, noch homogener als ihre Elternlinien sind.

Ich hoffe, hiermit ist klar, dass auch „alte/historische“ Sorten in diesem Sinne „modern“ sind. Auch die Individuen „alter“ Sorten sollen samenfest sein, d.h., genetisch einheitliche Nachkommen liefern; auch bei ihnen muss bei der Vermehrung auf Inzucht und Selektion von „Abweichlern“ geachtet werden.

„Samenfest“ bedeutet also immer Inzucht, mag diese von Sorten-Züchtern und Sorten-Erhalterinnen auch unterschiedlich streng gehandhabt werden.

Das Merkmal von Landsorten

Bei Landsorten war das Gegenteil der Fall: Alle Individuen einer Landsorte unterschieden sich genetisch; sie besaßen individuelle Gen-Kombinationen und waren somit genetisch einzigartig. Die Individuen einer Landsorte konnten sich über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende frei und unkontrolliert miteinander vermischen, Besonderheiten ausbilden und diese behalten (sie wurden nicht auf Einheitlichkeit selektiert).

Landsorten waren heterogene (heterozygote/gemischterbige), ungleichartige Populationen, Populationen aus einzigartigen Individuen; sie glichen in dieser Hinsicht wild lebenden Arten.

Um jetzt nicht der Falschaussage bezichtigt zu werden, sei darauf hingewiesen, dass es bei Landsorten einen (kleinen) Unterschied zwischen Arten mit Fremdbefruchtung, wie z. B. Roggen (Secale cereale), Zwiebeln (Allium cepa) und Möhren (Daucus carota subsp. sativus), und Arten mit Selbstbefruchtung, wie z. B. Weizen (Triticum spec.), Gartenbohnen (Phaseolus vulgaris), Tomaten (Solanum lycopersicon) und Paprika (Capsicum spec.) gab.

In Landsorten-Populationen von „Selbstbefruchtern“ war nicht jedes Individuum genetisch einzigartig; solche Populationen bestanden aus (einer großen Zahl) genetisch unterschiedlicher „Linien“, deren Mitglieder allerdings genetisch einheitlich waren.

Die ungehinderte Verkreuzung und die dadurch bedingte Heterogenität ihrer Individuen ist das wesentliche Merkmal einer Landsorte.

„Landsorte“ ist somit ein anderes Wort für „Nutzpflanzen-Art“.

Verschiedenfarbige Mohnsamen

Samen von Landsorten-Schließmohn

Es gibt also ein eindeutiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Zuchtsorten und Landsorten:
Zuchtsorten bilden Populationen aus genetisch einheitlichen Individuen (durch erzwungene Inzucht mit Reinerhaltung).
Landsorten dagegen waren Populationen aus genetisch unterschiedlichen Individuen (durch freie Verkreuzung und sich vermehrenden Unterschieden).

Lasst Euch nicht durch das Merkmal-Sammelsurium irre machen, das heute von vielen Menschen (auch Wissenschaftler:innen) zur Beschreibung von Landsorten verwendet wird (in diesem Dokument habe ich eine kleine Auswahl von Landsorten-Definitionen zusammengestellt).

Dass Landsorten z. B. an regionale Umwelt- und Anbaubedingungen angepasst sind, regional oft ein – oberflächlich betrachtet – einheitliches Ausehen zeigen und sich von Region zu Region unterscheiden können, sind sekundäre Erscheinungen, die durch Gen-Drift und die ungehinderte Vermischung der Individuen bedingt sind (mehr über die Entstehung von „Landsorten“ könnt Ihr im Beitrag „Gärtnern mit Landsorten“ erfahren).

Ist das soweit nachvollziehbar?
Ist nun klar, was Landsorten sind und wie sie sich von Zuchtsorten unterscheiden?

Bleibt noch die Frage:

Wozu brauchen wir Landsorten?

  1. Damit neue, nützliche Individuen innerhalb unserer Nutzpflanzen-Arten entstehen können. Nur in der Vielfalt sich frei mischender Individuen kann durch Neu-Kombination vorhandener Eigenschaften und Mutationen Neuartiges entstehen. Es darf keine gezielte Selektion auf bestimmte Merkmale erfolgen, damit dieses Neue bestehen bleiben und sich weiterentwickeln kann.
  2. Damit genügend unterschiedliche, einzigartige Individuen (Vielfalt!) vorhanden sind, wenn der Klimawandel krasser wird, wenn sich Anbau- und Umweltbedingungen ändern; denn nur wenn unendlich viele Varianten vorhanden sind, können passende dabeisein, die überleben, kann Anpassung stattfinden…

Landsorten sind Populationen lebendiger Individuen, die sich jedes Jahr mit anderen frei kreuzen müssen, damit ständig unendlich viele, neue, genetische Kombinationen und Mutationen entstehen und sich unter den herrschenden Anbau- und Umweltverhältnissen bewähren können; deshalb können sie nicht in Gen-Banken tiefgefroren erhalten werden (bei der Sammlung einer Landsorte können außerdem, wie schon erwähnt, nur ihre häufigsten Gene „eingefangen“ werden).

Landsorten müssen jedes Jahr in Gärten und auf Feldern wachsen, am besten in Euren Gärten und auf Euren Feldern!

Aber auch der Rest der Gesellschaft sollte wissen, warum Landsorten wichtig sind, und ihren Anbau entsprechend unterstützen – durch den Kauf ihrer Früchte und der Produkte, die aus ihnen hergestellt werden, durch Spenden und Steuergelder…

Wer sich auf die Gen-Technik verlässt, ist verlassen

Die Krux der züchtenden Gen-Techniker:innen der Universitäten und Saatgut-Konzerne ist, dass sie nur ganz wenige, neue Gen-Kombinationen herstellen können; auch die Anzahl neuer Mutationen, die sie mit Hilfe mutagener Strahlung und durch mutagene Stoffe auslösen können (sofern das heute noch versucht wird), hält sich arg in Grenzen…

Ich habe keine Angst, dass die Gen-Techniker:innen etwas Gefährliches erzeugen könnten (da glaube ich ihnen, dass sie nichts anderes tun, als die „Natur“ auch macht: Varianten erzeugen, die anschließend von den Umweltbedingungen geprüft werden).

Ich habe Angst, dass die Gen-Techniker:innen nicht die Varianten herstellen können, die wir, unsere Kinder und Enkel in Zukunft brauchen – weil sie die Zukunft einfach nicht kennen können…

Wehe uns, wenn unter ihren paar Varianten nicht die passenden sind, die z. B. mit einem unbekannten Klima zurechtkommen!

Ich prophezeie, dass der Kampf der Pflanzenzüchter mit den Umweltbedingungen nicht anders ausgehen wird als der „Wettlauf zwischen Hase und Igel“

…deshalb halte ich es für brandgefährlich, sich allein auf die Pflanzenzüchter:innen und ihre Gen-Technik zu verlassen!

Wir brauchen eine unendliche Vielfalt von Individuen, eine Vielfalt, die nur durch den verbreiteten Anbau von Landsorten-Populationen, von sortenfreien Nutzpflanzen-Arten, hervorgebracht werden kann – und die vielleicht eines Tages auch den Gen-Techniker:innen das richtige Gen liefert…