Keine Angst vor Sämlingen!

oder: Wie mit Falschaussagen die Vielfalt der Obstbäume massiv eingeschränkt wurde.

Kann man sich das vorstellen? Seit ungefähr 200 Jahren werden von Laien keine Obstbäume mehr aus Samen gezogen! Nicht eine neue Variante wurde seit damals von Herr und Frau Jedermann ins Leben gerufen. Die „Profis“ haben diese Jahrtausende alte Selbstverständlichkeit zu ihrem Spezialgebiet erklärt, von dem die Ahnungslosen besser die Finger lassen sollten, weil…

„…aus Kernen gezogene Bäume stets andere Früchte [tragen] als die Muttersorte, in der Regel ungenießbare.“ (Aus einer Information der ARCHE NOAH zur Veredelung von Obstgehölzen)

Mit dieser geschickten Mischung aus Wahrheit und Lüge, verkaufen die „Profis“ die Mehrheit der Gärtner*innen für dumm, so dass sie sich auf dem Gebiet der Sämlingsanzucht von Obstbäumen und Beerensträuchern keine eigenen Erfahrungen mehr zutraut.

Neue Aprikosensämlinge am 13. April 2019

Wahr ist: Die Früchte von Apfel-, Birnen- oder Kirschbäumen, die aus einem Samen (Kern, Stein) erwachsen, gleichen in der Regel nicht den Früchten, aus denen die Samen stammen.

Die Lüge: Die Früchte dieser aus Samen gezogenen Bäume seien in der Regel ungenießbar.

Die gesamte Wahrheit: Die Früchte dieser aus Samen gezogenen Bäume sind in aller Regel genießbar; sie sind nicht in jedem Fall gleich gut oder gar besser als die Früchte der Mutterbäume.

Manchmal wird die Sämlingsanzucht aber auch durch Internet-Seiten verhindert, die kompletten Blödsinn verbreiten: „Wenn Sie die Kerne aussäen, erhalten Sie lediglich Abkömmlinge der Baumart, die die Unterlage für Ihren Birnbaum gestellt hat.“

Ich kann versichern, dass die Unterlage keinerlei Einfluss auf die genetischen Eigenschaften der Samen in den Früchten hat.

Einer solchen Verdummung würde ich gerne eine allgemeine Verdammung entgegensetzen; denn Hobby-Gärten sollten heutzutage vor allem ein Reservat für die genetische Vielfalt unserer Nutzpflanzen sein sowie Raum für Experimente und Überraschungen bieten – und kein Ort maximaler Selbstversorgung

Keimlinge von Johannisbeeren, die zu Hunderten unter den Büschen zu finden sind (27. April 2019)

Wie es dazu kam, dass die Anzucht von Obstbaumsämlingen keine Frage mehr ist

Ich finde es schon erstaunlich, dass eine viel-hundertjährige Tradition nach einer Weile einfach vollkommen erlöschen, in Vergessenheit geraten und sogar als Dummheit abgestempelt werden kann, vor der ausdrücklich gewarnt wird?

Eine Erklärung liefert vielleicht ein Buch von 1798 von Johann Leibitzer mit dem vollständigen Titel „Vollständiges Handbuch der Obstbaumzucht, in welchem der Bürger und Landmann eine gründliche Anweisung findet, wie er sowohl die nützlichsten Obstbäume und Fruchtsträuche auf die leichteste Art pflanzen, erziehen, und veredeln soll, als auch wie die verschiedenen Früchte derselben in der Haushaltung am zweckmäßigsten zu verwenden sind.“

Eine aufgeklärte „Elite“ von Pfarrer, Adligem und Lehrer erklärt darin den selbstgenügsamen, sich nach altbewährter Tradition selbst versorgenden Dorfbewohnern in Form von belehrenden Dialogen, wie sie die Produktion steigern, sich in die „Marktwirtschaft“ integrieren und in immerwährendem Fortschritt zu einem immer besseren Leben gelangen können.

Die Belehrungen allein hätten vermutlich nicht geholfen, aber wirtschaftliche Not – zuerst durch fehlende Nahrungsmittel, später durch deren Überproduktion und Preisverfall – half kräftig mit, die neuen Lehren fruchtbar werden zu lassen.

Mein Kirschbaumsämling vor einem Beet mit (überwiegend) Erdbeersämlingen

Blüten des Kirschbaumsämlings am 13. April 2019, fünf Jahre nach seiner Geburt

Mitwirkende in dem folgenden Lehrstück (Seite 6 bis 9 der Einleitung des zuvor erwähnten Buches): Die Dörfler Hans, Görge und Stophel, Richter Thoms, Pfarrer Liebwerth, Herr von Ahrheim und Lehrer Lehrmann:

„Ey warum, – antwortete Hans, ich habe ja Bäume, die schon lange Frucht tragen, und besonders Aepfel und Birne, die ich noch in meiner Jugend aus Kernen von sehr gutem Obst gezogen habe; da habe ich für mich in manchen Jahren satt. Und ich – sprach Görge, habe mir gute Bäume vor vielen Jahren aus dem Walde gegraben, (denn auch im Walde findet man zuweilen Bäume mit schmackhaften Früchten) schöne gelbe und rothe, hübsch große Aepfel, die ich da fand und mir wohl schmeckten, diese habe ich in den Garten versetzt, und nun tragen diese Bäume herrliche Früchte. Und so lobte jeder mit ziemlicher Wärme seine Gartenbäume.

Das kann seyn, fiel der Richter scherzend ein, daß mancher von euch gute Bäume habe, aber sind sie so schön, wie jene in dem Garten unsers Vaters Liebwerth, oder Herrn von Ahrheim? tragen sie Obst von solcher Güte, Größe, Schönheit und Geschmack? und so reichlich? jährlich so voll auf? sind eure Bäume so ansehnlich, gesund, und so ordentlich? — Ich glaube nicht. Betrachtet nur eure, und jene, und dann sagt mir, ob ihr keinen Unterschied bemerket? —

Freylich sind unsere viel schlechter, nahm Stophel das Wort, weil sie meistens nicht gepfropft sind, allein wir müssen uns mit dem begnügen, was wir haben, und es ist doch immer besser etwas, als nichts zu haben.

Meine kleine Plantage aus Pflaumen- und Johannisbeersämlingen

Ihr habt Recht, erwiederte Thoms, aber sehet Freunde! wir haben zwar Bäume genug, allein sie sind nicht viel werth; auf dem Platze hingegen, wo ein schlechter Waldbaum steht, könnte ein besserer wachsen, der uns selbst mit herrlichen Früchten erquickt (o die neulichten Aepfel in der Stadt schmecken mir noch) und wovon wir manches für baares Geld verkaufen könnten; da uns itzt fast niemand unsere Baumfrüchte abnehmen will, weil sie meistens nur wild sind, und nach unserer Unwissenheit oder – Faulheit schmecken: nur zuweilen, wenn man keine besseren kriegt, lösen wir einige Groschen, mehrentheils von Kindern und armen Leuten, weil wir viel geben müssen; sonst aber bleiben wir damit sitzen, und führen sie unverkauft nach Hause. Im Gegentheil, wenn wir kostbares Obst hätten, würde man es gern kaufen, eine gute Waare selbst in unseren Gärten suchen, wir könnten die Fuhren in die Stadt sparen, und wie manche Hundert blanke Thaler kämen in unser Dorf! — Wäre es nicht rathsamer (und wirklich Zeit) daß wir auf die Verbesserung unserer Baumgärten dächten, nachdem uns die Küchengärten so viele Vortheile verschaffen, und alle noch übrigen Plätze mit nützlichen Bäumen bepflanzten? —

Ja! gewiß, riefen alle, Richter Thoms hat Recht, und mancher von uns hat das schöne Geld gesehen, welches für einen Wagen Obst gelöst wurde, wenn wir aus Liebwerths Garten einiges zur Stadt brachten, und wie reissend es wurde verkauft! – aber, aber – wer versteht sich mit den Bäumen! wer kennt die guten und schlechten? woher kriegen wir junge und gute Bäumchen? wer lehret uns pflanzen, veredeln, und gehörig warten und pflegen, bis sie einst da sind, uns mit den gewünschten Früchten erfreuen, und unsere Mühe und Arbeit belohnen? – erkläret uns Richter diese Fragen, und wir sind bereit alle unsere wilden Krüppel zu vertilgen und nützliche Bäume an ihre Stelle zu pflanzen.“

Die Profis haben natürlich gern geholfen…

Pflaumensämlinge

Sämlinge von leckeren Pflaumen, die ein Arbeitskollege 2018 am Wegesrand entdeckt hatte

In dem oben zitierten Buch von 1798 weiß man noch, wogegen es anzugehen gilt, auch im „Handbuch über die Obstbaumzucht und Obstlehre“ von J. L. Christ (1804) wird die Anzucht von Obstbäumen aus Samen noch als Fußnote erwähnt [1], aber schon 1836 heißt es: „Die Mittel, welche anzuwenden sind, um durch Kunst neue Sorten hervorzubringen, verdienen eben so wenig dem Landmanne zur Kenntnis gebracht zu werden, als die künstliche Behandlung solcher Fruchtbäume, die nur am Spalier, als Pyramiden etc. erzogen werden;…“ [2].

Die „Hebung der Obstcultur“ [3], d. h., die Ertragssteigerung steht allein im Vordergrund. Dazu wurden alle Bereiche des Obstanbaus professionalisiert, vor allem aber die Unzahl an Sorten auf wenige, ertragsstarke reduziert. Die Anzucht von Sorten aus Sämlingen nehmen nur noch professionelle Züchter vor.

In alten Werken über Beerenobstbau (1852) wird die Anzucht neuer Sorten aus Samen noch ausführlich beschrieben; aber seit damals dienen Anleitungen für die Anzucht von Apfel-, Birnen- und Kirschen-Sämlingen, sofern sie überhaupt noch Bestandteil der Obstbau-Literatur sind, ausschließlich deren späterer Veredelung mit ausgewählten, leistungsfähigen Sorten.

Die späteren Anforderungen des (Groß)Handels nach großen Mengen einheitlichen Obstes, das der Masse schmecken musste, trugen dann weiter dazu bei, alle Spezialitäten und Sorten für Sonderverwendungen (Dörren, Saft, Obstwein, Mus, Kraut, Einkochen etc.) in der Versenkung verschwinden zu lassen.

„Sag, wo die Reinetten sind, wo sind sie geblieben…“

Dahin sind wir also heute gekommen: Die Erwerbsobstbauern haben keinen Spielraum für Experimente und nutzen deshalb nur noch ganz wenige, ertragreiche Sorten und die Mehrheit der gärtnernden Menschheit wird von einer tief sitzenden Angst gelähmt, neue Sorten aus Samen zu ziehen, weil… …weil deren Früchte angeblich ungenießbar sind bzw. nichts taugen.

[1] Johann Ludwig Christ: Handbuch über die Obstbaumzucht und Obstlehre, 1804
[2] Georg Conrad Bayer: Anweisung zum Obstbau und zur Benutzung des Obstes, für den Bürger und Landmann, 1836
[3] J. G. Konrad Oberdieck & Eduard Lucas: Beiträge zur Hebung der Obstcultur, 1857

Pflaumensämling

Blüten des Pflaumensämlings

Wissen versus Glauben

Aussagen, die Früchte von Sämlingen seien in der Regel ungenießbar, sind seit 200 Jahren nichts anderes als Wiederholungen unbewiesener Behauptungen; denn seit damals hat kaum jemand die Probe aufs Exempel gemacht und tatsächlich Obstbäume aus Samen (Kernen, Steinen) gezogen.

Ich weiß davon zumindest bis jetzt nichts; falls ich hier etwas verpasst habe, bitte ich um Aufklärung in den Kommentaren.

Meine eigenen Erfahrungen beschränken sich bisher vor allem auf Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren und Johannisbeeren, aber auch auf ein paar Pflaumen- und Apfelbäume, die ich aus Samen gezogen habe. Bisher war nichts Ungenießbares dabei, manche haben das Standardangebot der Supermärkte locker übertroffen.

Zukünftig werde ich mehr wissen: Kirschen- (links) und Birnensämlinge (rechts; am 27. April 2019)

Ein Dutzend Schwarze Johannisbeer-Sämlinge

Dazu eine kleine Anekdote: Ich hatte im letzten Jahr einem Arbeitskollegen eine Schale Schwarze Johannisbeeren mitgebracht, die ich in meiner Sämlingsanlage gepflückt hatte. Als er ein paar davon aß, bemerkte er beiläufig, dass sie ja unterschiedlich schmeckten.

Ich muss gestehen, dass ich mich über diese Aussage heimlich unheimlich gefreut habe.

Ja, alle schwarzen Johannisbeeren sehen sich zwar sehr, sehr ähnlich, schmecken tun sie aber verdammt unterschiedlich! Sie schmecken (obwohl nicht jedermanns Geschmack)! Auf jeden Fall! Sie sind genießbar!

Die Ernte meiner Schwarze-Johannisbeersämlinge 2018 (am 6. Juli)

Über die Früchte meiner Aprikosen- und Pfirsichsämlinge habe ich ja schon Bericht erstattet; die Früchte dieser beiden Obstarten sind, ebenso wie die Pflaumen, oftmals ziemlich ähnlich wie die Früchte des Mutterbaumes. Da sie vom Pollen der eigenen Blüte(n) befruchtet werden können (sie sind selbstfertil), sind sie ziemlich reinerbig (homozygot). Ein Sämling dieser Obstarten wird nur dann ein (unbekannter) Mischling sein, wenn die Blüte zufällig mit dem Pollen einer anderen Sorte befruchtet wurde.

Sämling einer Grünen Reineclaude

Auf eine solche Befruchtung hoffe ich natürlich insgeheim, wenn ich einen Sämling dieser Arten großziehe; aber bei einigen würde ich mich auch freuen, wenn sie so gut schmecken würden wie die Früchte, denen ich die Steine entnommmen habe.

Kurze Anleitung für die Anzucht von Obstbaum- und Beerenstrauch-Sämlingen

Das einfachste ist natürlich, Sämlinge, die irgendwo im Garten auftauchen, im Frühjahr auszugraben und an die gewünschte Stelle zu verpflanzen. Das habe ich mit den meisten Stachel- und Johannisbeeren so gemacht.

Bei Bäumen ist es aber auf jeden Fall ratsam, nur Kerne und Steine von guten Früchten selbst auszusäen, da unbekannte Sämlinge tatsächlich auch „Wildlinge“ sein können; bei Kirschen ist das oft der Fall, weil die wilde Vogelkirsche als Sämling nicht von einer „Kultur-Kirsche“ zu unterscheiden ist.

Ich hatte einen Kirschbaumsämling, der zufällig in der Nähe des Eingangs aufgetaucht war, ein paar Jahre wachsen lassen, bis ich im letzten Jahr seine ersten Früchte probieren konnte: Leider waren sie sein Todesurteil; denn es war eine Vogelkirsche.

Ich habe die Samen bisher immer in Plastik-Blumentöpfe ausgesät und diese bis knapp unter den Rand eingegraben, um ihren Standort besser erkennen und kontrollieren zu können. In den ersten Jahren habe ich dazu ziemlich kleine Töpfe genommen.
Das Problem bei diesen ist dann allerdings, dass die Wurzeln nach einem Jahr oft schon durch die Löcher im Topfboden hindurchgewachsen und teilweise so dick geworden sind, dass man sie nicht mehr ohne weiteres herausziehen kann, wenn man die Sämlinge im folgenden Frühjahr verschult, d. h., an einen Platz setzt, an dem sie sich die nächsten ein bis drei Jahre kräftigen können, oder an ihren endgültigen Platz pflanzt.

Aus diesem Grund habe ich im letzten Jahr ca. 20 cm tiefe Töpfe genommen. Die waren bei den Apfelbaum-, Johannisbeer- und Weintrauben-Sämlingen perfekt.

Aussäen muss man immer im Herbst. Die meisten Samen brauchen entweder einen „Kälteschock“ (Äpfel) oder die Einwirkungen von Temperatur und Feuchtigkeit, damit die Keimlinge aus den harten Steinen ausbrechen zu können (Kirschen, Pflaumen, Aprikosen, Pfirsiche). Die Steine vor der Aussaat mit Gewalt aufzubrechen, was oft empfohlen wird, ist eher schädlich für den Keimling und niemals notwendig, wenn die natürlichen Verhältnisse einwirken können.

Man kann die Samen selbstverständlich auch direkt in ein ordentlich bearbeitetes Beet säen; man bedeckt sie mit einer Erdschicht, die ungefähr doppelt so dick ist wie der Same (auch in den Blumentöpfen).

Vielleicht sollte ich zum Schluss noch an eine möglichst genaue Bezeichnung der Aussaatstellen erinnern; ich wusste teilweise im nächsten Frühjahr nicht mehr, was ich wohin gesät hatte (ist vor allem bei unterschiedlichen Sorten ratsam).