Jäger des verlorenen Schatzes
oder: Bericht über meinen Versuch, Deutschland die verschollene „Madeira-Zwiebel“ wiederzugeben.
Die „Madeira-Zwiebel“ taucht zwischen 1850 und 1950 als mild und süßlich schmeckende Riesenzwiebel (Gemüsezwiebel) in vielen deutschen Samenkatalogen und Gartenbüchern auf.

Tafel No. 1 von 1850 aus dem Album Vilmorin S. 67 (die beiden großen rosa Zwiebeln sind die „Madeira-Zwiebeln“)
Heute werden „Madeira-Zwiebeln“ auf der Webseite, die über den Zustand der deutschen „Planzengenetischen Ressourcen“ (PGRdeu) informiert, als „Verschollene Sorten“ geführt, das heißt, diese Zwiebeln sind aus den deutschen Gärten verschwunden und auch in keiner Genbank hierzulande erhalten geblieben.
Obwohl ich ja der Meinung bin, dass die Erhaltung alter Sorten so gut wie keinen Nutzen für die Vielfalt unserer Nutzpflanzen hat („Sorten erhalten war gestern“), liegt mir manche alte Sorte doch am Herzen, weil sie mir in ihrer Einheitlichkeit gefällt, wie die Höri-Bülle, ich sie außergewöhnlich finde, wie die Bamberger Birnförmige, oder sie unbestimmte positive Gefühle in mir auslöst, wie die Rosa Mährische (Moravanka). Diese Sorten vermehre ich dann auch sortenrein (samenfest!).
In diesem Punkt bin ich eine gespaltene Persönlichkeit, wie ich Euch schon im Beitrag „Auf, auf, zur Saatgut-Selbstversorgung!“ gestanden habe…
Solche kaum ergründbaren Emotionen löste auch die „Madeira-Zwiebel“ aus, als ich sie neulich im Internet entdeckte.
Ausschnitt aus dem Youtube-Video: „Visitamos a FESTA DA CEBOLA! O arraial dos agricultores do Caniço, ILHA DA MADEIRA“
Im Überschwang der Gefühle keimte in mir der Wunsch, die „Madeira-Zwiebel“ wieder hierzulande heimisch zu machen – und sie natürlich auch in meine eigene, neu entstehende Zwiebel-Landsorte einzumischen.
Dazu müsste ich nur mal eben die Insel Madeira besuchen, mir dort einen Sack Zwiebeln holen, die Zwiebeln in meinen Garten pflanzen und Samen produzieren lassen („Die Leichtigkeit der Zwiebelvermehrung“); bei den heutigen Möglichkeiten sollte ein solcher Ausflug ein Kinderspiel sein.
In Gedanken hatte ich die Reise locker und mehrfach ohne Probleme bewältigt…
Diese Fantasien wurden im Winter 2024 zu einem fixen Plan: Zur „Heimholung“ der „Madeira-Zwiebel“ organisierte ich vom 7. bis 25. April eine Expedition mit meinem jüngsten Sohn auf die Blumen-, ähm, Zwiebel-Insel Madeira.
Im heutigen Beitrag erfahrt Ihr, was aus diesem Vorhaben geworden ist. Außerdem erfahrt Ihr, mit welchen Fragen ich mich in diesem Zusammenhang herumgeschlagen habe. Das Wissenswerte über die „Madeira-Zwiebel“, das nebenbei anfiel, streue ich hier nebenbei ein…
Bevor ich aber zur Jagd auf eine verlorene Zwiebel-Sorte blase, versuche ich erst einmal die Frage zu klären:
Darf die „Madeira-Zwiebel“ als deutsche Sorte bezeichnet werden?
Damals, als die Saatgutgewinnung im Hausgarten und auf dem Bauernhof aufgegeben und professionellen Gewerbetreibenden überlassen wurde (siehe „Versunkene Kultur“), suchten sich diese Samenhändler und Pflanzenzüchter einzelne Varianten aus der schier unbegrenzten Masse der Landsorten-Pflanzen aus und verwandelten sie in einheitliche Sorten (samenfeste Zucht-Sorten, Inzucht-Sorten) mit einprägsamen und verkaufsfördernden Namen.
Auch die „Madeira-Zwiebeln“ müssen damals einträgliche Einkünfte versprochen haben, da sie in vielen alten Saatgut-Katalogen als „(größte) platte und runde Riesen“ angepriesen wurden.
Ausgewählte Saatgut-Kataloge (Ausschnitt mit „Madeira-Zwiebeln“)
Wilhelm Pfitzer, 1857, Stuttgart (Zwiebeln und Lauch)
Wilhelm Pfitzer, 1867, Stuttgart (4. Zwiebel und Lauch)
Haage & Schmidt, 1896, Erfurt (Zwiebeln oder Zipollen)
Pape & Bergmann, 1897, Quedlinburg (Zwiebeln)
N.L. Chrestensen, 1907, Erfurt (Zwiebeln und Schalotten)
Ernst Benary, 1909, Erfurt (Zwiebeln)
Carl Pabst, 1928, Erfurt (Zwiebeln)
Gebrüder Dippe, 1931/32, Quedlinburg (Zwiebeln)
Heinrich Mette, 1936/37, Quedlinburg (Zwiebeln)
Haage & Schmidt, 1938, Erfurt (Zwiebeln oder Zipollen)
Wer tiefer suchen möchte, kann die „European Nursery Catalogue Collection“ noch nach Angeboten der „Madeira-Zwiebeln“ durchforsten, obwohl ich glaube, dass alle relevanten Informationen schon im Projekt „Weiterentwicklung der Roten Liste der gefährdeten einheimischen Nutzpflanzen für Gemüse“ erhoben wurden…
Die Firma Benary aus Erfurt hat zwischen 1876 und 1886 – so wie die Firma Vilmorin in Frankreich ab 1850 – ein Album mit wunderschönen Abbildungen von Zwiebel-Sorten (neben denen anderer Gemüse-Sorten) herausgegeben, die sie zu dieser Zeit im Angebot hatte.
Ich habe die dort verewigten 28 Zwiebeln ausgeschnitten und zeige sie Euch hier (auf Tafel XXII sind auch die beiden damals beliebten „Madeira-Zwiebeln“ zu sehen, die ich mit den französischen Abbildungen im Beitragsbild oben kombiniert habe).

Tafel XVI aus dem „Album Benary“ von 1876 (vergrößern)

Tafel XXII aus dem „Album Benary“ von 1879 (mit den beiden „Madeira-Zwiebeln“) (vergrößern)

Tafel XXIX aus dem „Album Benary“ von 1886 (vergrößern)
Nutzpflanzen-Vielfalt? Von wegen!
Viele denken ja, dass 28 Zwiebel-Sorten in den verschiedensten Farben, Formen und für die unterschiedlichsten Verwendungszwecke eine außergewöhnliche Vielfalt seien und ungefähr die ursprünglichen 100 Prozent an Zwiebel-Vielfalt umfassen, die es in Deutschland einmal gab.
Diese Sorten-Zahlen dienen in der Regel auch als Grundlage, um die Verluste an Nutzpflanzen-Vielfalt zu berechnen, die seither eingetreten sind. Die 75 bis 90 Prozent der Nutzpflanzen-Vielfalt, die heute als verloren gemeldet und immer wieder lautstark beklagt werden, beruhen auf solchen Zahlen.
Ich möchte Euch jedoch an dieser Stelle daran erinnern, dass diese 28 Sorten nur ein winziger Ausschnitt aus der Individuen-Vielfalt der Zwiebel-Landsorten waren, die einst existierte.
Diese viel gewaltigeren Verluste an genetischer Vielfalt werden bis heute nicht thematisiert, möglicherweise, weil über „Die Kehrseite der Pflanzenzüchtung“ ungern gesprochen wird.
Dass die Pflanzenzüchtung für Verluste an Vielfalt verantwortlich ist, gibt zwar auch das Bundesinformationszentrum Landwirtschaft (BZL) zu („Vielfalt schwindet“), behauptet aber im selben Atemzug, dass die ursprüngliche Vielfalt „dank Auslese und Migration“ entstanden sei.
Auslese führt jedoch – nach den Gesetzen der Logik – genau zu der Verringerung von Vielfalt, die mit Bedauern festgestellt wird (dazu mehr im nächsten Beitrag, in dem es um den Gegensatz von Künstlicher und Natürlicher Selektion gehen wird).
Auch in den Gartenbüchern jener Zeit finden sich häufig Listen mit empfehlenswerten Sorten, zu denen oft die „Madeira-Zwiebel“ zählt.
Ausgewählte Gartenbücher (mit den entsprechenden Ausschnitten über „Madeira-Zwiebeln“)
Wilhelm Hampel: Gartenbuch für Jedermann; 1890 (Zwiebeln oder Zibollen)
Theodor Lange: Allgemeines Gartenbuch; 1895 (Die Wurzelgemüse – c. Arten mit zwiebelförmigem Wurzelstock)
Johannes Boettner: Gartenkulturen, die Geld einbringen; 1908 (Der Anbau von Zwiebeln)
Johann Ludwig Christ, Friedrich Lucas: Christ-Lucas Gartenbuch; 1919 (VII. Die Zwiebelgewächse 1. Gewöhnliche Zwiebel, Gartenzwiebel)
Die letztmalige, offizielle Erwähnung der „Madeira-Zwiebel“ in Deutschland habe ich im Büchlein „Die Reichsgemüsesorten (Erster Teil)“ von 1939 gefunden; dort wird sie unter „IX. Zwiebeln (Allium cepa L.) Punkt 7“ (neben 11 weiteren Sorten) folgendermaßen beschrieben:
Diese Sorte wird, was die Größe anbelangt, von keiner anderen des Sortiments übertroffen, eine Zwiebel wiegt 200 g und mehr. Sie ist kugelförmig rund, in der Farbe weinrosa bis fleischfarben und hat lockeres Zwiebelfleisch. Die Madeirazwiebeln reifen sehr spät und besitzen einen milden und süßlichen Geschmack. Der Anbau erfolgt zweckmäßig nicht wie bei den anderen Sorten durch Aussaat ins freie Land, sondern durch Anzucht von Pflanzen im kalten Kasten, die dann später ausgepflanzt werden. Ein Großanbau dieser Sorte dürfte für Deutschland nicht in Frage kommen. Die Haltbarkeit ist sehr gering, daher auch keine Eignung für Winterlager.“

In der Mitte eine fotografische Abbildung der Madeira-Zwiebel von 1939 (Tafel XIII, aus: Reichsgemüsesorten, 1939)
Reicht ein 100-jähriger Aufenthalt in Deutschland, um als eingebürgert und deutsch zu gelten?
Darüber sind ja unterschiedliche Meinungen verbreitet; ich zähle die „Madeira-Zwiebel“ aber auf jeden Fall zu den deutschen Sorten…
Nachdem dies für mich geklärt war, musste ich mich mit einer weitaus wichtigeren Frage beschäftigen:
Kann die „Madeira-Zwiebel noch einmal zu einer deutschen Sorte werden, wenn ich sie heute wieder aus Madeira einführe und hier vermehre?
Auf der portugiesischen Insel Madeira gibt es nämlich die „Madeira-Zwiebel“ noch…
Wie oben bereits erwähnt, hatte ich vor geraumer Zeit im Internet Hinweise auf die regionale Zwiebel der Insel Madeira, die „Cebola da Madeira“, entdeckt.
Zumeist werden Regional- oder Lokal-Sorten heute überregional bekannt, wenn sie zu verschwinden drohen und sich jemand für ihre Erhaltung einsetzt.
Überall auf der Welt verschwinden die Landsorten aus dem Anbau, wenn eine Gegend marktwirtschaftlich erschlossen und der Nutzpflanzenbau nach neuesten, wissenschaftlichen Erkenntnissen betrieben wird. Der kleinräumige, arbeitsintensive (nach betriebswirtschaftlichen Kriterien teure) Anbau lokaler Sorten wird vom Überangebot des Marktes mit einheitlicher Billigware ertränkt.
Die lokalen Sorten überleben dann (bestenfalls) noch in einer Genbank.
Diesem Schicksal drohte (und droht) auch die „Madeira-Zwiebel“ zu erliegen; deshalb wurde (und wird) versucht, sie als lokale Besonderheit (teurer) zu vermarkten, um auf diesem Wege sie und ihre Anbauer:innen am Leben zu erhalten.
Beitrag zum Wissen über Agrodiversität in der Gemeinde Santa Cruz, Madeira
Zwiebel
[…] Die Gemeinde Santa Cruz hat eine lange Tradition im Zwiebelanbau, der insbesondere in der Pfarrei Caniço typisch ist. Die erste Erwähnung des Zwiebelanbaus in Santa Cruz stammt jedoch aus dem Jahr 1821 (Tabellen 1 und 2) und wird mit der Zunahme der wirtschaftlichen Bedeutung des Anbaus in Verbindung gebracht. Pereira (1939) befasst sich ausführlich mit der historischen Vielfalt der Zwiebeln und zählt acht „Sorten“, nämlich: die im ganzen Gemeindegebiet angebaute Frühzwiebel, die Spätzwiebel (Camacha), die rote Zwiebel (Santa Cruz), die für Santana typische violette Zwiebel, die weiße Zwiebel (Caniço) sowie die 1940 eingeführten Sorten Pião, Garrafal und Valenciana. Diese Aufstellung deckt sich mit den im Volksmund von den Bauern vergebenen Namen, nicht jedoch mit der Phänotypisierung der regionalen Sorten. Die roten und violetten Zwiebelsorten gelten als die ältesten. Bei der Untersuchung der Nutzpflanzenvielfalt wurden Proben von 18 Zwiebelpopulationen (Abbildung 4 b,c) entnommen, die über Caniço, Camacha und Santa Cruz verteilt sind. Diese entsprechen Populationen von sechs lokalen Sorten: Bujanico, Pião, Cebola do Caniço, Cebola da Camacha, Cebola de inverno [Cebola do tarde] und Vermelha do Caniço. Diese Untersuchung zeigt, dass die Art in Caniço und Camacha weiterhin angebaut wird, in anderen Gemeinden der Gemeinde jedoch weniger vertreten ist. Die am häufigsten angebauten lokalen Sorten sind Bujanico (4), Pião (3), Cebola da Camacha (3) und Vermelha (2). Die Verringerung der Anbauflächen und die Einführung von Saatgut kommerzieller Sorten sowie die Fremdbestäubung fördern die Verunreinigung und genetische Erosion dieser Sorten. […]
aus: „Contributo para o conhecimento da agrodiversidade no concelho de Santa Cruz, Madeira“ (von GOOGLE übersetzt)
Ein Antrag an die EU-Kommission vom August 2023, ihre Bezeichnung schützen zu lassen, wurde im November positiv beschieden. Seitdem sind sechs Varianten der „Cebola da Madeira“ als regionales Produkt ausgezeichnet, womit der Verkauf von Zwiebeln unter dem Namen „Madeira-Zwiebel“ auf Zwiebeln beschränkt ist, die auf der Insel Madeira angebaut wurden (Samen der „Madeira-Zwiebel“ dürfen jedoch überall unter diesem Namen verkauft werden; ihr Anbau im heimischen Garten ist damit nicht untersagt, wie manche glauben).
Die Bezeichnungen der verschiedenen Varianten lauten: „Branca“ (die Weiße), „Bujanico“ (vermutlich die Propfen-artige), „Pião“ (die Kegel/Kreisel-förmige), „Vermelha“ (die Rötlich-rote), „Roxa“ (die Violett-rote) und „Do Tarde“ (die Späte). Auf dem nachfolgenden Bild könnt Ihr sie (einigermaßen gut) erkennen…

Ausschnitt aus dem Technischen Datenblatt (Caderno de Especificações) für die „Cebola da Madeira“ (vergrößern)
DIE „Madeira-Zwiebel“ gibt es also garnicht. Es gibt immer noch verschiedene Varianten – so wie früher, auch wenn eine platte Riesenzwiebel nicht mehr dabei ist…
Welche Variante sollte ich nun nach Deutschland einführen und wieder zu einer deutschen „Madeira-Zwiebel“ machen?
Mir schwirrte der Kopf von all den Fragen…
Ich entschied mich für die ersten drei Varianten, die ich als süße, runde (uneinheitliche) „Madeira-Riesenzwiebel“ hier wieder zu etablieren hoffe.
Ob sich aus den eingeführten Zwiebeln wieder die „alte“ Sorte „Runde Madeira-Riesenzwiebel“ herstellen lässt, ist die gleiche Frage, die sich bei allen „alten“ Sorten stellt, die aus uneinheitlichen (Genbank-)Beständen rekonstruiert werden (müssen). Diese Frage wurde – dem Himmel sei Dank! – von Vereinen, die sich mit der Erhaltung und Rekultivierung von alten Sorten befassen, schon eindeutig mit „Ja“ beantwortet.
Kaum waren diese Fragen einigermaßen zufriedenstellend geklärt, wurde ich kurz nach dem Start der Expedition mit einer ganz anderen, bis dahin gänzlich unbedachten Frage konfrontiert:
Wo wurden die Samen der „Madeira-Zwiebel“ früher gewonnen?
„Könnten die früheren Verkäufer von „Madeira-Zwiebel“-Saatgut die Samen nicht aus Madeira importiert haben?“ fragte mich Alex beim ersten Zwischenstopp in Okriftl.
Eine verdammt gute Frage, auf die ich leider keine Antwort wusste (und auch jetzt noch nicht weiß), die aber starke Zweifel am Sinn meiner Expedition aufkommen ließ.
Es ist ja ohne Weiteres möglich, hierzulande eine südländische Riesenzwiebel anzubauen, wie ihr früherer Anbau hierzulande zeigt; aber in Deutschland Saatgut von ihr zu gewinnen, bedeutet, sie auch hier überwintern, d. h., sie ein paar Monate lagern zu müssen, was laut Angabe in der Reichssortenliste von 1939 („Die Haltbarkeit ist sehr gering, daher auch keine Eignung für Winterlager“) jedoch ziemlich schwer zu bewerkstelligen ist.
In Madeira können Zwiebeln ganzjährig angebaut werden, auch wenn sich dort über die Jahrhunderte bestimmte Zeiten als vorteilhaft für die Aussaat, das Umpflanzen der vorgezogenen Zwiebeln und die Ernte sowie für das Auspflanzen der Samenzwiebeln herauskristallisiert haben (siehe folgenden Kasten).
Ursächlicher Zusammenhang zwischen dem geografischen Gebiet und den Eigenschaften des Erzeugnisses
„[…] In den tiefer liegenden und sonnigeren Gebieten des Südhangs werden die traditionellen Frühsorten („Branca“, „Pião“ und „Bujanico“) im September ausgesät, um im Dezember ausgepflanzt und im März/April geerntet zu werden. In höheren Lagen oder am Nordhang und auch auf der Insel Porto Santo werden diese „cebolas do cedo“ oder „Frühzwiebeln“ erst mindestens einen Monat später ausgesät.
Die traditionellen Sorten, die später im Jahr ausgesät werden („Vermelha“, „Roxa“ und „Do Tarde“), lokal als „cebolas do tarde“ oder „Spätzwiebeln“ bezeichnet, benötigen längere Tage mit mehr als 14 Stunden Sonnenlicht, damit sich die Bulben richtig ausbilden können. Außerdem benötigen sie mehr Feuchtigkeit und in den Sommermonaten mehr Wasser. Diese Sorten werden daher vor allem in höheren Lagen und am Nordhang Madeiras angebaut. Sie werden im Dezember/Januar ausgesät, im März/April ausgepflanzt und im Juli/August geerntet…“
(aus dem „Antrag auf Eintragung eines Namens nach Artikel 50 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1151/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über Qualitätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel„)
Was hätte ich tun sollen? Umkehren und die Expedition abblasen?
Nein, es gab kein Zurück mehr.
Ich machte mir Mut, indem ich mir sagte: „Die Madeira-Zwiebel ist wahrscheinlich noch Landsorte genug und damit genetisch noch einigermaßen vielfältig, so dass unter meinen Importzwiebeln einzelne Exemplare sein sollten, die lagerfähig sind und mit den deutschen Verhältnisse klarkommen, ohne ihre sonstigen Eigenschaften dabei einzubüßen.“
Bekanntlich stirbt ja die Hoffnung zuletzt…
Bald quälte mich jedoch schon wieder eine Frage:
Kann ich an einem Tag genügend „Madeira-Zwiebeln“ auf Madeira bekommen, um damit eine Zucht in Deutschland aufzubauen?
Die Osterfeiertage hatte ich, wie so vieles, überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt (ich hatte nicht einmal recherchiert, wann in Madeira die Zwiebeln geerntet werden). Am Karfreitag sollten alle Geschäfte ruhen und am Sonntag Nachmittag stand schon der Rückflug an.
Wie konnte ich in einem Tag, ausgerechnet an einem Samstag, die Insel erfolgreich nach Zwiebeln durchsuchen?
Ich kann Euch verraten: Wäre mir das Glück nicht drei Mal extrem hold gewesen, wäre die Expedition extrem erfolglos geblieben.
Glücksfall Nr.1:
Nachdem wir am Donnerstag Nachmittag glücklich in unser Appartement in Caniço eingecheckt waren, unternahmen wir einen kleinen Spaziergang ins Zentrum des Ortes, über steilste Straßen, vorbei an zwei kleinen Feldern mit Zwiebeln in kräftigem grünen Laub.
Ich hatte unseren Aufenthalt in Caniço gewählt, weil dieser Ort als das Zentrum des Zwiebelanbaus gilt. Dort wird seit 1997 alljährlich zu Ehren der Zwiebel und ihrer Anbauer:innen (oder zur Förderung ihres Verkaufs und des Fremdenverkehrs, ich weiß es nicht) das Zwiebel-Fest „Festa da Cebola“ gefeiert.
Ich hatte angenommen, dass deshalb in Caniço zahlreiche Zwiebelbauern ihre Zwiebeln direkt ab Hof verkaufen würden.
Diese Annahme stellte sich leider schon bei diesem ersten Spaziergang als Wunschdenken heraus. Nirgendwo habe ich während meines Aufenthalts auf der Insel ein derartiges Angebot entdeckt; aber…
…in einem kleinen Gemüseladen im Zentrum von Caniço deutete dessen Verkäuferin, der ich ein „Cebola da Madeira?“ zuraunte, auf eine Kiste mit Zwiebeln, die mir lokale Produkte zu sein schienen, so wie sie aussahen.
Freudig erregt erstand ich ein paar Exemplare, die Ihr auf dem folgenden Bild betrachten könnt, noch in dem Glauben, überall und jederzeit mehr erwerben zu können…
In dem Supermarkt, den wir anschließend aufsuchten, bekam ich auf die obige Frage zwar ebenfalls einen Netzbeutel mit ähnlichen Zwiebeln, die sich aber bei genauerem Hinsehen in der Unterkunft als Zwiebeln aus dem afrikanischen Senegal entpuppten.
Auch in anderen Märkten, die ich in den nächsten beiden Tagen bei Rundfahrten über die Insel nach einheimischen Zwiebeln durchstöberte, stieß ich auf Zwiebeln aus Peru und Mexiko, die den regionalen Zwiebeln zum Verwechseln ähnlich sahen.
Zwei Mal hatte ich allerdings das Glück, Zwiebeln zu finden, an deren Kisten „Cebolas regionais“ stand; trotz Zweifeln an ihrer Echtheit tütete ich einige Exemplare ein.
Glücksfall Nr. 2:
Sicherheitshalber hatte ich vor der Abreise den Vermieter unseres Appartements, Rodrigo, gefragt, ob er mir Kontakte zu Zwiebelbauern vermitteln könne. Die folgenden Zeilen würden nicht unter die Glücksfälle fallen, wenn sich meine Hoffnung nicht erfüllt hätte.
Am Morgen des Samstags konnte ich per WhatsApp und in Englisch mit Paulo Valente, Gemüsebauer und Schweinezüchter, kommunizieren. Der folgende Film zeigt ihn bei der Arbeit…
Plantio da Cebola, Paulo Valente; Film von NAMINHATERRA TV (2023)
Hier noch ein Interview mit ihm beim Zwiebelfest 2025 (ungefähr ab Minute 41:00, für diejenigen, die Portugiesisch beherrschen).
Paulo bot mir 100 Zwiebelsetzlinge (Cebolinhos) für sieben Euro an, fast geschenkt also.
Vorgezogene Zwiebeln! Daran hatte ich überhaupt noch nicht gedacht. Was konnte es Besseres geben?
Ob die gekauften Zwiebeln in diesem Jahr noch rechtzeitig blühen und Samen bringen würden, ist ungewiss. Die „Cebolinhos“ dagegen werden zuhause zum perfekten Zeitpunkt zu ausgewachsenen Zwiebeln reifen, ganz so, als hätte ich sie selbst aus Samen gezogen.
Die paar Rückreisetage würden sie schon überstehen!
Und über den Winter würde ich die ausgewachsenen Zwiebeln auch schon irgendwie kriegen…
- Vorne links der Flecken Erde, in dem meine „Cebolinhos“ gewachsen sind
- Paulo vor einem seiner Zwiebelfelder
- Verbliebene Terrassenanlage für den Zwiebelanbau
Als ich Paulo zur Übergabe der Setzlinge traf, erzählte er mir von einer anderen, späteren Zwiebelsorte, von der er noch Samenzwiebeln auf seinem Hof habe.
Wuauh! Wir rasten hinter seinem Truck her zu seinem Hof.
Bald umklammerten meine gierigen Finger einen Plastebeutel mit 12 ausgewählten Samenzwiebeln – ich würde sagen – der Variante „Vermelha“, dieses Mal tatsächlich geschenkt.
Paulo sowie mein Vermieter wollen außerdem versuchen, mir noch Zwiebelsamen zukommen zu lassen; das Ziel aller Träume wäre erreicht…
Die „Madeira-Zwiebel“ könnte allerdings – trotz aller Mühen – auf Madeira bald Geschichte sein, wie ich von Paulo erfuhr: Die Anbauflächen schrumpfen rapide, die Probleme mit Krankheiten und Wetterkapriolen nehmen drastisch zu.
Kauft also „Madeira-Zwiebeln“, wenn Ihr Madeira besucht, so lange es sie noch gibt! Aber vielleicht könnt Ihr ja bald wieder deutsche „Madeira-Zwiebeln“ selbst anbauen…
Glücksfall Nr. 3:
Bei unserem ersten Spaziergang ins Zentrum von Caniço hatte ich ganz in der Nähe unserer Unterkunft, hoch über einer Mauer, einen Garten mit Zwiebeln entdeckt, die kurz vor der Blüte standen.
Am Samstagmorgen, in aller Frühe, kletterte ich die Böschung am Ende der Mauer hinauf, um Zwiebeln und Garten aus der Nähe zu betrachten. Ein Hündchen sowie eine alte Dame, die gerade Zwiebeln erntete, erschraken nicht schlecht, als ich mich durch das trockene Gestrüpp vor dem Maschendrahtzaun zwängte, der den Garten umgab.
Ich versuchte trotz fehlender Portugiesisch-Kenntnisse, der Gärtnerin das Ziel meines Besuches – Zwiebelsamen zu bekommen – mitzuteilen. „Sementes“ stammelte ich und deutete auf die bald blühenden Zwiebelpflanzen.
Die Samen seien nur für den Eigenbedarf, meinte ich zu verstehen.

Ich habe die Dame fotografiert, als sie die Zwiebeln aufhob und zusammenband, die sie mir schenken wollte…
Stattdessen bekam ich ein Bündel frisch ausgezogener „Madeira-Zwiebeln“ überreicht. Die fünf Euro, die ich dafür spenden wollte, wies die Lady entrüstet zurück; denn auch sie habe die Zwiebeln nur von höherer Stelle geschenkt bekommen, wie ich ihre nach oben sich reckenden Arme deutete…
Die Eingangsfrage kann ich also folgendermaßen beantworten: In den drei Tagen, die ich auf Madeira verbrachte, habe ich 40 ausgewachsene Zwiebeln sowie rund 100 Zwiebelsetzlinge ergattern können, ich denke, genug für den Anfang einer „Madeira-Zwiebel“-Zucht…
Die Expedition würde ich somit als vollen Erfolg bezeichnen.
Euch bleibt zum Schluss die bange Frage:
Wie erging es den „Madeira-Zwiebeln“ auf dem Rückweg und im fremden Land?
Ich kann Euch beruhigen: Es ist mir gelungen, die „Cebolinhos“ lebend nach Deutschland zu bringen, trotz des kleinen Abstechers nach Barcelona, den wir noch einlegten.
Die Zwiebelsetzlinge kamen am 27. April von spanischer Erde, die ich unterwegs in ihre Plastetüte gefüllt hatte, in deutsche. Ich pflanzte sie in Hohenwepel, wo die Expedition am 8. April begonnen hatte und am 25. April 2025 auch wieder glücklich endete, auf ein Feld meines Bruders, das u. a. für Hohenwepeler Honigmelonen vorgesehen war.
Dort haben sie Wurzeln geschlagen, wie ich einen Monat später feststellen konnte, so wie die „Vermelhas“, die ich ebenfalls dem dortigen Bördeboden anvertraut hatte. Allerdings sind letztere der (wissentlichen) Gefahr ausgesetzt, sich mit meinen anderen Zwiebeln zu vermischen, die Ihr auf dem folgenden Bild auf der linken Seite sehen könnt – es sei denn, sie blühen später als alle anderen…
Die von Madeira importierten Bulben der süßen Riesenzwiebeln habe ich in meinem Schwedter Kleingarten vergraben, damit sie sortenreine Samen produzieren. Erste Zwiebeln zeigten am 28. Mai erste Lebenszeichen…
Alles Weitere erfahrt Ihr ein andermal…
Nur dies noch: Die Rückfahrt führte sehr nahe an Lézignan-la-Cèbe vorbei, einem kleinen Ort im südlichen Frankreich, der ebenfalls für seine lokalen, süßen Zwiebeln bekannt ist.
Mehr muss ich wahrscheinlich nicht andeuten, damit Ihr Euch denken könnt, was das zu bedeuten hat, oder?
Großartige Geschichte… ich bin gespannt, wie es weitergeht. LG Tanja