Das Wesen der Biodiversität

oder: Wie „die Natur“ Vielfalt schafft, erhält und vermehrt – und warum.

Meinen kritischen Vorab-Lesern gewidmet

„Evolution“ hat zu einer unüberschaubaren Vielfalt an unterschiedlichen Individuen, zu der jetzigen Biodiversität auf diesem Planeten geführt. Obwohl wir die einzelnen Lebewesen kaum als einzigartig wahrnehmen, weil wir nur (biologische) Arten sehen, zu denen wir sie (künstlich) zusammengefasst haben, spielen in der Realität nur die (einzigartigen) Individuen eine Rolle.

„Züchtung“ hat die bedeutende Individuen-Vielfalt der Landsorten, die sich in 10.000 Jahren menschlicher Pflanzenbaugeschichte entwickelt hatte, in nur knapp 200 Jahren auf wenige Hochleistungsindividuen (Hochleistungssorten) eingeschmolzen („Die Kehrseite der Pflanzenzüchtung“).

Grundlage der Biodiversität, der Individuen-Vielfalt, ist die Natürliche Selektion; Züchtung und ihre Hochleistungssorten basieren auf Künstlicher Selektion.

Wenn Natürliche Selektion zu mehr Vielfalt führt, während Künstliche Selektion vorhandene Vielfalt verringert, muss es einen wesentlichen Unterschied zwischen Natürlicher und Künstlicher Selektion geben.

Um diesen Unterschied zwischen Natürlicher und Künstlicher Selektion wird sich der heutige Beitrag drehen.

„Die Natur“ schafft Biodiversität auch in Zukunft ohne unser Zutun durch Natürliche Selektion; aber die Vielfalt unserer Nutzpflanzen und -tiere können wir nur wieder vermehren, wenn wir verstehen, wie die einstige Vielfalt der Landsorten und -rassen entstanden ist.

Wer spoilern will, darf direkt zum Abschnitt springen, in dem ich den Unterschied zwischen den beiden Selektionstypen enthülle. Alle anderen erfahren noch, auf welchem Wege ich zur Erkenntnis gelangt bin (Ihr könnt dazu auch zwei Versionen dieses Beitrags lesen, die dem jetzigen vorausgingen: „Selektion findet nicht statt“ und „Die Entstehung der Individuen-Vielfalt durch Natürliche Selektion“)

Für die Augen gibt’s drei Galerien mit Ansichten von der Evolution meines Gartens von der freundlichen Übernahme 2012 bis heute (Juni 2025).

Darwin und die Natürliche Selektion

Heute wird zumeist nur ein Unterschied zwischen der Natürlichen und der Künstlichen Selektion gesehen: Die Natürliche Selektion wird durch „die Natur“, die Künstliche durch den Menschen vorgenommen; ansonsten sollen beide auf dem gleichen Auswahlprinzip beruhen: Für die Fortpflanzung werden die „Besten“ ausgewählt.

Die Vorstellung, dass Natürliche und Künstliche Selektion das gleiche Auswahlverfahren nutzen, haben wir Charles Darwin zu verdanken, der „Die Enstehung der Arten“ auf Natürliche Selektion zurückführt, d. h., auf die Erhaltung begünstigter Rassen bzw. auf das Überleben der Tauglichsten (On the Origin of Species by Means of Natural Selection Or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life; seit der 5. Ausgabe 1869 ist Kapitel IV überschrieben mit: Natural Selection, or Survival of the Fittest)

Darwin hat die menschliche Züchtung, sprich die Künstliche Selektion, zum Vorbild für die Natürliche Selektion genommen. Er glaubte, die Arten seien auf die gleiche Weise entstanden wie die von Menschen gezielt gezüchteten (ausgewählten) Nutzpflanzensorten und Haustierrassen.

Die „Besten“ seien die Überlebenden im Existenzkampf, wie Darwin annahm – und an der Anzahl ihrer Nachkommen erkennbar, wie seine Nachfolger später erklärten, als die Frage aufkam, woran „die Natur“ denn die „Besten“ erkennen könne.

Vielfalt und Selektion

Auf dieser Grundlage wird auch immer wieder behauptet – vor allem aus Kreisen der modernen Pflanzenzüchtung und ihrer Apologeten – unsere Nutzpflanzen, d. h., die unermessliche Vielfalt der einstigen Landsorten mit ihrer immensen Vielfalt an unterschiedlichen Einzelpflanzen seien durch die stetige Auswahl der besten Pflanzen (für die Vermehrung im nächsten Jahr) entstanden („…und sortierten bei jeder Ernte die Pflanzen mit den besten Körnern aus.“)

Dass dies Unsinn ist, sollte jedem Menschen schon die einfache Logik deutlich machen: Eine Auswahl der „Besten“ setzt eine vorhandene Vielfalt an unterschiedlichen Individuen voraus; „Auswahl“ verringert logischerweise eine vorhandene Menge, wie auch die Züchtungsanstrengungen der letzten 200 Jahre mehr als deutlich zeigen („Die Kehrseite der Pflanzenzüchtung“, „Zeit für bessere Menschen“).

Dass Selektion nicht zu Vielfalt führt, ist mir auch erst im Laufe der letzten Jahre bewusster geworden, in denen ich mich um eine Antwort auf die folgende Frage bemüht habe, die meines Erachtens bisher nirgendwo beantwortet wird: Wie entsteht/entstand die Individuen-Vielfalt, aus der die besten Individuen ausgewählt werden können/konnten, warum bleibt sie erhalten und vermehrt sich sogar beständig?

Dass Mutationen und die stetige Neukombination der Eigenschaften bei der geschlechtlichen Fortpflanzung die Grundlage für die Vielfalt an unterschiedlichen Individuen legen, ist heute wissenschaftlicher Konsens; aber die Frage bleibt: Wie und warum hat die Individuen-Vielfalt ständig zugenommen bzw. nimmt sie auch weiterhin ständig zu, obwohl wir ganze Arten (haben) aussterben sehen?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, musste ich die Auswahlkriterien der Natürlichen Selektion entschlüsseln und herausfinden, wie sie sich von denen der Künstlichen Selektion unterscheiden.

Der Gedanke, dass die Auswahl der „Besten“ dem Erhalt von Vielfalt zuwiderläuft, tauchte erstmals (noch sehr verschwommen) in meinem Bewusstsein auf, nachdem ich „Goodbye Kartoffelsorten!“ und „Sei gegrüßt Kartoffelvielfalt!“ gesagt hatte…

Erhaltung meiner Kartoffel-Vielfalt

2021 habe ich, wie in „Goodbye Kartoffelsorten!“ nachzulesen, die drei bis fünf Pflanzkartoffeln aller 120 Kartoffelsorten zusammengeworfen, die ich bis dahin gesammelt und aus Samen gezogen hatte („Die große Kartoffelschau“). Ich wollte sie gemeinsam anbauen, also nicht mehr nach Sorten getrennt, um so in erster Linie Arbeit zu sparen.

Trotzdem war mir natürlich sehr daran gelegen, bei diesem Misch-Anbau eine möglichst große Vielfalt an Kartoffelvarianten zu behalten.

Acht Plaste-Gitterboxen mit verschiedenfarbigen Kartoffeln

Bunte Kartoffeln. Ernte 2024

„Wie müsste ich meine Pflanzkartoffeln in Zukunft auswählen, um mir eine maximale Kartoffel-Vielfalt zu bewahren?“ war dabei die spannende Frage, die mich in jenem Sommer erstmals beschäftigte.

Mein erster Gedanke war selbstverständlich, den allgemein verbreiteten und anerkannten Grundsatz zu befolgen, Knollen der besten Pflanzen zu Setzkartoffeln für das nächste Jahr zu machen; die gesündesten und ertragreichsten Pflanzen sollten bevorzugt die Pflanzkartoffeln liefern.

Schnell wurde mir jedoch klar, dass dieses Auswahlprinzip auf Kosten der Vielfalt ginge. Je strenger ich auf Qualität selektierte, desto geringer sollte die Varianten-Vielfalt im Pflanzkartoffelsack sein.

Kartoffelbeet mit unterschiedlichen Pflanzen

Blick auf das Misch-Kartoffelbeet am 23. Juli 2024

Außerdem lastete die Frage schwer auf mir: „Würden die besten Pflanzen in diesem Jahr auch die besten Pflanzen in den kommenden Jahren sein?“

Nein, sagte ich mir, die Auswahl der Besten verträgt sich auf keinen Fall mit der Vorgabe, eine maximale Vielfalt meiner Kartoffelsorten zu erhalten.

Im Vordergrund drei Reihen mit gemischten Kartoffelsorten, im Hintergrund zwei Streifen mit jeweils einheitlicher Kartoffelsorte

Vorn drei Reihen mit meinen Misch-Kartoffeln; dahinter zwei Hochleistungssorten meines Bruders (Juni 2025)

An diesem Punkt begannen erste Zweifel an dem Prinzip „Auswahl der Besten“, auf dem ja auch die Natürliche Selektion beruhen soll, an mir zu nagen.

Einen weiteren Knacks bekam diese landläufige Vorstellung von der Natürlichen Selektion, als ich im Buch des bedeutenden Evolutionsbiologen Ernst Mayr „Was ist Evolution?“ (Goldmann, 2005) zufällig las:

„Die natürliche Selektion ist eigentlich ein Prozess der Beseitigung“

Dies ist der Wortlaut der Zwischenüberschrift des zweiten Abschnitts im Kapitel „Natürliche Selektion“ des genannten Buches.

Bei der Natürlichen Selektion soll es also, laut Mayr, „eigentlich“, was so viel bedeutet wie „in Wirklichkeit“ (im Original heißt es „really“), nicht um die Auswahl der „Besten“ sondern um die Beseitigung der „Schlechtesten“ gehen.

Ähnliches hatte ich schon von Alfred R. Wallace, dem Mitbegründer der Evolutionslehre, gelesen, der 1866 in einem Brief an Darwin geschrieben hatte, als er diesem anstelle von „Natural Selection“ den Ausdruck „Survival of the fittest“ schmackhaft machen wollte: „…da die Natur, selbst wenn sie personifiziert wird, nicht so sehr spezielle Varianten auswählt, sondern vielmehr die ungünstigsten auslöscht (…since, even personifying Nature, she does not so much select special variations, as exterminate the most unfavourable ones.“)

Diese Sichtweise von Mayr war also noch nichts wirklich Neues.
Höchst interessant war aber dann, zu welcher Erkenntnis er gelangt, wenn er nicht die „auserwählten Besten“ sondern die „beseitigten Schlechtesten“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt.

Er schreibt im genannten Abschnitt (S. 151) weiter wörtlich:

„Gibt es zwischen Selektion und Beseitigung einen Unterschied, was ihre Auswirkungen für die Evolution betrifft? Diese Frage wurde offensichtlich in der Literatur über Evolution nie gestellt.

Ein Selektionsprozess hat ein konkretes Ziel: Er stellt fest, welches der „beste“ oder „geeignetste“ (fitteste) Phänotyp ist. Nur relativ wenige Individuen einer Generation erfüllen die Anforderungen und überleben die Selektion. Diese geringe Zahl kann nur einen kleinen Teil der gesamten Variationsbreite der Ausgangspopulation bewahren. Eine solche am Überleben orientierte Selektion wäre stark einschränkend.

Dagegen schafft die bloße Beseitigung der weniger Geeigneten die Möglichkeit, dass eine größere Zahl von Individuen überlebt, weil ihre Eignung keine offenkundigen Mängel aufweist.“

Mayr sagt hier klipp und klar, dass die Auswahl der Besten die Vielfalt verringern, die Beseitigung der Schlechtesten jedoch mehr Vielfalt zur Folge haben würde.

Weiter hält er sich aber bei diesem Gedanken nicht auf.

Für mich wurde hier jedoch ein Weg sichtbar, der zu mehr Vielfalt führte: die bloße Beseitigung der Schlechtesten. Mich störte dabei jedoch immer noch die Bewertung, die nötig war, um die „Schlechtesten“ zu bestimmen.

Das Menschliche, das der Natürlichen Selektion von Beginn an anhaftete, stieß mir mehr und mehr unangenehm auf. „Auswählen können nur rationale Wesen, Zwecke haben nur rationale Wesen bzw. diese können Zwecke in andere Sachen wie die Natur hineinlesen/-deuten.“ (Eduard Derksen). Der Begriff „Selektion“ (Auswahl) ist im Zusammenhang mit „der Natur“ völlig unpassend; aber da er sich eingebürgert hat, verwende ich ihn weiterhin, jedoch mit einem anderen Hintergrund, den ich nachfolgend darlege…

Ich weiß nicht, wie und wann mir der entscheidende Gedanke kam, ich weiß nur, dass er im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 2024 in Paris entstand:

Eine Goldmedaille erhalten alle, die das Ziel erreichen

Nach den Regeln der Olympiade (und sonstiger menschlicher Wettkämpfe) kann immer nur Eine:r gewinnen; nur die Besten jeder Sportart bekommen jeweils eine Goldmedaille.

Diese Art der Bewertung findet auch bei der Züchtung statt, bei der Künstlichen Selektion. Die „Besten“ werden anhand bestimmter Kriterien ermittelt und nur diese auserwählten „Besten“ dürfen sich fortpflanzen.

Ganz, ganz langsam dämmerte mir, dass es in der Natur ja nicht darum geht, Erster, Schnellster oder Fittester zu sein, sondern ausschließlich darum, sich fortzupflanzen, die „Kette des Lebens“ zu verlängern: In der Natur geht es darum, überhaupt das Ziel zu erreichen und das ist in diesem Fall die Fortpflanzung.

Alle, denen es auf irgendeine Art und Weise gelingt, sich fortzupflanzen, haben gewonnen – und bekommen eine Goldmedaille; es ist keinerlei Bewertung und Rangfolge notwendig…

Die Natürliche Selektion nutzt folglich ein absolut simples Entscheidungsschema, das nur zwischen 0 (untauglich) und 1 (tauglich) unterscheidet:

  • 0 – Strom aus – nicht fortgepflanzt – Lebenskette beendet,
  • 1 – Strom fließt – fortgepflanzt – Lebenskette verlängert.

Fragen nach den Qualitäten eines Lebewesens, die seine Fortpflanzung eventuell ermöglicht haben und eventuell zu einer vermehrten Nachkommenschaft führen, sind bei dieser Form der Selektion völlig irrelevant. Auf die Frage „Warum ist ein Lebewesen tauglich?“ gibt es keine Antwort – oder nur die tautologische Antwort „Weil es sich fortgepflanzt hat“.

Alle Eigenschaften eines Lebewesens, die seine Fortpflanzung nicht verhindern, sind nützlich bzw. tauglich. Die Auswahl (Selektion) hat Darwin völlig unnötigerweise aus der Künstlichen Selektion übernommen.

Die Natürliche „Selektion“ ist demnach eine simple Entscheidung, ob ein Lebewesen lebens- und fortpflanzungstüchtig, mit einem Wort: tauglich ist. Diese Art der Entscheidung führt dazu, dass eine größtmögliche Vielfalt an unterschiedlichen Individuen am Leben bleibt.

Die Künstliche Selektion beruht auf der Auswahl der besten Individuen. Die Natürliche Selektion ist die Ermittlung aller (fortpflanzungs)tauglichen Individuen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der Künstlichen und der Natürlichen Selektion.

Auch wir Menschen können demzufolge „Natürliche Selektion“ betreiben, indem wir alle tauglichen, sprich: brauchbaren, Individuen fortpflanzen.

Betrachtet dies nur als Hinweis auf die Entstehung unserer Nutzpflanzen in Form der ehemaligen Landsorten-Vielfalt und der Möglichkeit ihrer Wiederherstellung (zu diesem Thema wird es aber noch einen gesonderten Beitrag geben).

An den Schluss dieses Ausflugs in die Evolutionsbiologie hänge ich noch einen kleinen Exkurs an über:

Die Bedeutung von Biodiversität und der Natürlichen Selektion als ihrer Schöpferin

Ich halte noch einmal fest: Die Natürliche Selektion ist nicht die Auswahl der Besten, wie die Künstliche Selektion, sondern eine Feststellung von Tauglichkeit; alle Individuen, die sich fortpflanzen, sind tauglich.

Die Natürliche Selektion verringert die Vielfalt nicht, wie die Künstliche Selektion, sondern vermehrt sie maximal.

Die Natürliche Selektion dient also weder der „Vervollkommnung eines jeden organischen Wesens in Bezug auf dessen organische und unorganische Lebensbedingungen“, sprich: der perfekten Anpassung oder der Erschaffung bestens angepasster Arten, wie Darwin meinte (Die Entstehung der Arten, 1876, S. 105) noch der „Eroberung neuer Lebensräume und unbesetzter funktioneller Nischen…“ wie es heute (zumindest ergänzend) heißt (Wolfgang Wieser: „Die Evolution der Evolutionstheorie“, 1994, S. 11).

Die Natürliche Selektion führt zu mehr Biodiversität, zu mehr Individuen-Vielfalt. Dieser Vielfalt kann aus menschlicher Sicht ein Sinn, eine Bedeutung zugeschrieben werden, im Gegensatz zu den vorgenannten Zielen, die der Natürlichen Selektion bis heute unterstellt werden, die reiner Selbstzweck wären.

Jedes einzelne Lebewesen, das sich fortpflanzt und dabei die Variationen vermehrt, trägt seinen Teil dazu bei, dass das „Lebenslicht“ auf diesem Planeten nicht erlischt – und nur darum geht es; denn die Fortdauer des „Lebensprozesses“ (unter veränderlichen Bedingungen) hängt allein von der Vielfalt an Varianten ab, von einer maximalen Zahl unterschiedlicher Individuen. Individuen-Vielfalt ist quasi die „(Über)Lebensversicherung“ des Lebens…

…und für diese Vielfalt einzigartiger Individuen, die Biodiversität, sorgt die Natürliche Selektion, indem sie alle tauglichen Individuen sich fortpflanzen lässt, alle Individuen, die vorhandene Stoffe und Energiequellen zum Leben (zur Fortpflanzung) nutzen können, seien es Pflanzen, Pflanzenfresser, Räuber, Parasiten oder eine der anderen Lebensformen, die auf dieser Erde existieren.

Maximale Individuen-Vielfalt ist das Wesen der Biodiversität, Grundlage für Anpassung und Evolution, die weitere Vermehrung von Individuen-Vielfalt…